Folgen
Die Deutsche Einheit ist ein Erfolg. Zwar bestehen weiterhin Unterschiede zwischen Ost und West, aber eine große Mehrheit ist zufrieden, lebt in Freiheit, Wohlstand und Frieden. Deutschland ist multikultureller geworden und in Europa fest verankert.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

30 Jahre nach der Deutschen Einheit haben Menschen in Ost und West eines gemeinsam: sie sind überwiegend zufrieden. Das sagt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Wochenzeitung „Die Zeit“. Vergleicht man die Situation in Deutschland mit anderen Ländern, gibt es dafür auch gute Gründe. Hier lebt man in Frieden, Wohlstand, Freiheit, mit funktionierenden Institutionen und einer hohen Lebensqualität, die nicht zuletzt einer erfolgreichen Deutschen Einheit, aber auch einer nicht minder erfolgreichen europäischen Integration zu verdanken ist. Die gleiche Studie zeigt aber auch, dass es neben der positiven Grundstimmung vielfältige Unterschiede gibt, die sich objektiv in Zahlen niederschlagen – die aber auch subjektiv und emotional erkennen lassen, dass es sich nicht um ein homogenes Volk handelt. Ein Beispiel hierfür sind die Unterschiede bei den Ängsten: Im Westen fürchtet man vor allem die Folgen des Klimawandels, im Osten Einwanderung und Kriminalität. Das ist nicht bloß Ausdruck persönlicher Prioritäten, sondern hat vielschichtige Ursachen und deutet auf andere Problemwahrnehmungen und Erwartungen.

Regionale und kulturelle Unterschiede gab es immer – aber gemessen am Versprechen des Grundgesetzes, für gleiche Lebenschancen zu sorgen, gibt es noch immer viel zu tun. Das betrifft materielle und Statusunterschiede wie bei Karrierechancen oder der Einkommens- und Vermögensentwicklung – aber auch eine Überwindung des Gefühls, im politischen System angemessen vertreten zu sein und sich nicht als Bürger zweiter Klasse zu fühlen. Es hat in der alten Bundesrepublik lange gedauert, bis verstanden wurde, dass die Integration von Einwanderern – darunter 12 Millionen sogenannter Gastarbeiter und ihre Familien, Asylanten, Spätaussiedler oder EU-Bürger, die von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch machten – nicht nur eine Anpassung der Zugezogenen bedeutet, sondern dass das auch eine Aufgabe für alle Deutschen ist. Länder in Europa mit homogeneren Gesellschaften und ohne eine solche Integrationserfahrung zeigen sich heute deutlich reservierter, wenn es um Hilfe für Menschen in Not und europäische Solidarität geht.
Im Fall der Deutschen Einheit brauchte es ebenfalls seine Zeit, bis begriffen wurde, dass es nicht reicht, das westdeutsche System auf den Osten auszudehnen und umfangreiche finanzielle Transfers bereitzustellen, sondern dass es auch um Teilhabe und Identität der 16 Millionen Neu-Bundesbürger geht.

Deutschland in Europa

Das vereinigte Deutschland hat sich in Europa für die Wiedervereinigung des im Kalten Krieg geteilten Kontinents Europa eingesetzt und von der EU-Osterweiterung 2004 sehr profitiert. Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 erscheint Deutschland gastfreundlicher und attraktiver. In der Folge kamen nicht nur mehr Touristen, sondern auch hunderttausende teils hochqualifizierte Arbeitskräfte – vor allem aus der EU, aber auch aus anderen Teilen der Welt. Das hat zum Wohlstand beigetragen, eine Gesellschaft mit niedriger Geburtenrate nicht schrumpfen lassen, den Ausländeranteil deutlich erhöht und die Gesellschaft insgesamt multikultureller werden lassen. 2014 gewann eine sichtbar diverse deutsche Nationalmannschaft die Fußballweltmeisterschaft. Ab 2015 bewies das Land eine Willkommenskultur, als es eine große Zahl von Menschen aus Asien und Afrika aufnahm, die in Europa Schutz vor Krieg, Gewalt und Vertreibung suchte. Deutschland nahm von allen EU-Staaten den größten Teil auf und setzt sich für eine verantwortungsvolle europäische Einwanderungspolitik ein.

Rückschläge und Verantwortung

Was das Bild von Deutschland im Ausland aber mindestens so sehr prägt wie die aufgeführten positiven Entwicklungen, ist die Berichterstattung über Terrorismus, Formen ausländerfeindlicher, antisemitischer oder islamophober Gewalt – in verbaler sowie physischer Form. Auch der Einzug der „Alternative für Deutschland“ (AfD) in Landesparlamente und den Deutschen Bundestag ist immer wieder Thema. Damit einher geht eine Versuchung – angesichts der deutschen Vergangenheit und der Verantwortung aus den Verbrechen des Nationalsozialismus – vereinfachende Schlussfolgerungen zu ziehen. So wird ein düsteres Bild von Deutschland gezeichnet, das durch negative Prognosen verstärkt wird.

Jeder Anschlag und jeder rassistische Akt ist einer zu viel. Menschenverachtende Demonstrationen und Reden sind widerwärtig und gehören nicht in eine freiheitliche Gesellschaft, die den Schutz der Würde des Menschen an den Anfang ihrer Verfassung stellt. Trotz aller schlechten Nachrichten: Verglichen mit anderen Ländern und der eigenen Vergangenheit ist die deutsche Gesellschaft heute nicht pauschal rechtsextremer, polarisierter, unsicherer oder instabiler: Sozialwissenschaftliche Studien und Kriminalitätsstatistiken belegen das Gegenteil. Das ist nicht Grund genug, selbstgefällig 30 Jahre deutsche Einheit zu feiern: denn es gibt viel zu verbessern, viel zu verlieren und viel zu verteidigen. Vermutlich entspricht das Leben in Deutschland 2020 nicht dem, was sich die meisten Ostdeutschen vorgestellt haben, als sie 1989 auf die Straße gingen. Aber wenn ich mir als Deutscher oder Ausländer aussuchen könnte, wann ich in diesem Land leben will, ich würde die Gegenwart wählen und keine historische Zeit – auch wenn wir dazu neigen, in der Rückschau die Vergangenheit zu verklären. Es mag in vielerlei Hinsicht heute nicht gut sein: aber weder für mich und andere Deutsche in Ost und West noch für Migranten war es früher besser. Und das ist ein Ausdruck gelingender Einheit und Integration, die nicht vollendet ist, auch scheitern kann und deshalb von allen immer weitere Anstrengungen verlangt.

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