Ilham Aliyev, Präsident der Republik Aserbaidschan; Vladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation; Nikol Paschinjan, Der armenische Premierminister. (TRTHABER)
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Zunächst schien sein Hauptanliegen die Wiederherstellung der aserbaidschanischen Zuständigkeit in den zuvor besetzten Gebieten in Berg-Karabach unter Gewährung eines gewissen „Sonderstatus“ für die armenische Bevölkerung der Region und unter Aufsicht russischer Friedenstruppen zu sein. Tatsächlich stellt sich jedoch jetzt heraus, dass der Eckpfeiler dieses Dokuments eine Klausel über die Freigabe von Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen ist, die unter anderem die Öffnung eines Transportkorridors von Aserbaidschan in die Autonomieregion Nachitschewan und weiter in die Türkei und in den Iran durch die Sangesur-Region Armeniens vorsieht.

Dieser Aspekt ist für die Geopolitik des Südkaukasus heute grundsätzlich wichtiger als das Schicksal der verbliebenen armenischen Bevölkerung in Karabach oder die Wiederherstellung der territorialen Integrität Aserbaidschans innerhalb seiner Verwaltungsgrenzen noch aus der damaligen UdSSR. Auch die armenische Gesellschaft hat sich mehr oder weniger mit dem Verlust dieses Territoriums und der an ihren Besitz geknüpften Träumereien abgefunden. Noch interessanter macht die Thematik jedoch, dass aktuell in der praktischen Umsetzung nicht etwa Baku oder Eriwan am Zug sind, sondern Moskau, für das die Frage der Öffnung des Verkehrskorridors Sangesur heute viel wichtiger ist als für alle anderen Parteien des Abkommens über Karabach.

Dies ist auf ein grundlegend neues Modell der russisch-armenischen Beziehungen zurückzuführen, das der Kreml implementiert hat, da die veränderten Machtverhältnisse in der Südkaukasus-Region ihm dies aufzwangen.

Damit die aktuellen Beziehungen zwischen Russland und Armenien verständlich werden, hier ein Beispiel aus einem Gebiet fernab der Politikwissenschaft. Jeder Autofahrer versteht, dass er einen Gebrauchtwagen an einen neuen Besitzer nur dann verkaufen kann, wenn er noch fahrtüchtig ist, ansonsten muss er verschrottet werden. Ähnliches gilt für Armenien. Russland hätte es beispielsweise noch im Sommer 2016 für gutes Geld an Aserbaidschan „verkaufen“ können, als nach der Niederlage der armenischen Armee bei den Kämpfen im April klar wurde, dass dieses Land nichts mehr zu bieten hatte. Diese Chance blieb dem Kreml bis zum Sommer 2020. Aber jetzt, wo Armenien besiegt ist und Aserbaidschan seinen Sieg mit dem Blutzoll tausender seiner besten Söhne bezahlt hat, ist ein solcher Deal im Grunde unmöglich. Armenien ist heute, bildlich gesprochen, kein „fahrtüchtiger Gebrauchtwagen“, sondern ein „Haufen Schrott“, für dessen Wiederverwertung auch noch eine Umweltsteuer zu entrichten ist. Um Armenien zu „vermarkten“, muss man es zunächst für „bankrott“ erklären und erst dann für einen „symbolischen Betrag vermarkten“. Moskau hat dies sehr gut, aber leider für sich selbst zu spät verstanden und sucht jetzt nach Wegen, seine Verluste bei der Abwicklung des „Bankrotts Armeniens“ zu minimieren.

In diesem Rahmen wurde vorgeschlagen, die Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen in der Südkaukasus-Region durch die Schaffung des Sangesur-Verkehrskorridors freizugeben. Dabei ist seine Öffnung für Russland notwendig, denn nur so kann es mittelfristig in der Region präsent bleiben. Auch Aserbaidschan braucht die Öffnung dieses Korridors, jedoch in geringerem Maße, da das autonome Nachitschewan als aserbaidschanische Exklave über die Jahrhunderte hinweg einen Mechanismus für die Kooperation der beiden Landesteile in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht entwickelt hat und diesen erfolgreich umsetzt. Aus diesem Grund ist es für Aserbaidschan durchaus möglich, mit der praktischen Umsetzung des Sangesur-Korridorprojekts zu warten und sich auf Arbeiten zur Wiederherstellung der Infrastruktur der befreiten Gebiete zu konzentrieren, auch solchen, die im Interesse dieses Logistikprojektes stehen, um diese dann als Druckmittel gegen den Kreml zu nutzen.

Armenien lehnt die Öffnung des Sangesur-Korridors durch sein Territorium kategorisch ab und sieht darin eine Bedrohung der Souveränität und territorialen Integrität. Aserbaidschan übt mit den Maßnahmen zur Demarkation seiner Staatsgrenze diesbezüglich nur vorgeblich energischen Druck auf Armenien aus. Tatsächlich aber unterwirft es durch diese Handlungen die zuvor von Armenien annektierten Gebiete wieder seiner eigenen Gerichtsbarkeit, ohne diese Angelegenheit jedoch mit der Frage der Öffnung des Sangesur-Korridors zu verbinden. Gerade in Eriwan versucht man, diese beiden Themen miteinander zu verknüpfen, was für armenische Politiker im Vorfeld der Parlamentswahlen am 20. Juni noch dazu eine besondere Relevanz erlangte. Der Kreml hat es offensichtlich eilig, das neue trilaterale Abkommen über den Sangesur-Korridor zu implementieren, wohl wissend, dass er mit einem etwaigen Zeitverlust automatisch die Initiative und damit die führende Position in der Region verliert und diese dann automatisch in die Hände des offiziellen Baku übergeht.

Auch die aserbaidschanischen Verantwortlichen sind sich dieser Situation sehr bewusst. Daher intensivieren sie ihre Wiederaufbaubemühungen und -prozesse auf ihrem Territorium und überlassen es Moskau allein, als selbsternanntem Vermittler in der armenisch-aserbaidschanischen Nachkriegszeit die politischen Aspekte dieses Projektes mit Eriwan zu klären. Das heißt, es ist nicht das türkisch-aserbaidschanische Bündnis, sondern Russland, das jetzt gezwungen ist, Armeniens Ambitionen zu bändigen und den Wert seines zweihundert Jahre alten geopolitischen Projekts namens „Armenien“ herabzustufen. Aserbaidschan weist dem Kreml heute die Rolle des Totengräbers der "Dritten" Republik Armenien zu, die ursprünglich nur zur Verwirklichung der im vergangenen Herbst durch den Krieg zerstörten Idee der Vereinigung geschaffen wurde und 30 Jahre existierte.

Dies ist die Sangesur-Falle für den Kreml,der, um seine Präsenz im Südkaukasus aufrechtzuerhalten, bereits gezwungen ist, nicht wie bisher allen Launen und Ambitionen Armeniens nachzugeben, sondern mit diesen sehr hart zu brechen und einen Kotau vor Aserbaidschan zu machen. Dies belegen die jüngsten Angebote für Bakus Beitritt zur CSTO und zur EEU, da es im Südkaukasus keine andere wirkliche Kraft gibt. Moskau muss so schnell wie möglich die Sympathie Bakus mit Taten und nicht mit Worten gewinnen, und dies kann nur erreicht werden, indem es Eriwan eigenhändig in seinem eigenen innenpolitischen und sozioökonomischen Sumpf ertränkt und den Forderungen der aserbaidschanischen Seite nachkommt. Und der Kreml kann dieser Falle nicht entkommen.

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