Vorstellung Pisa-Studie 2022 / Photo: DPA (dpa)
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„Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg und für eine sorgenfreie Zukunft.“ Diesen Satz habe ich von Kindesbeinen an von meinen Eltern immer wieder gesagt bekommen, besonders wenn es mal wieder nicht ganz so rund lief in der Schule. Jetzt, mitten im Berufsleben stehend, denke ich zurück: Meine Eltern wollten ihrem Sohn mit diesem Satz die Perspektiven für ein produktives und glückliches Leben bewusstmachen. Gerade in Deutschland, dem „Land der Dichter und Denker“, nimmt das Thema Bildung eine übergeordnete Rolle ein. Allerdings steht das deutsche Bildungssystem vor großen Herausforderungen. Ähnlich wie in der Wirtschaft, dem Wohnungsbau oder der Verkehrs- und Gesundheitspolitik sprechen Bildungsexperten und Beobachter auch hier bereits von einer „Krise“ oder gar „Zeitenwende“.

Nach dem Pisa-Schock ist vor dem Pisa-Schock

Dass das Schulsystem und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland enorme Defizite aufzeigen, wurde vor allem durch den sogenannten „Pisa-Schock“ Anfang des Jahrtausends klar. Die internationale Schulleistungsstudie Pisa („Programme for International Student Assessment“) hatte im Jahr 2001 erstmals im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) weltweit die Kompetenzen von 15-Jährigen beim Lesen, in den Naturwissenschaften und der Mathematik untersucht. Die Pisa-Studie, die seitdem alle drei Jahre veröffentlicht wird, rief einen öffentlichen Aufschrei hervor und löste eine langwierige bildungspolitische Debatte in der Bundesrepublik aus. Doch ob der Weckruf von damals zu positiven Veränderungen im Bildungssystem geführt hat, darf im Hinblick auf neue Studien, wie die aktuelle Pisa-Studie, die im Dezember veröffentlicht wurde, hinterfragt werden.

IQB-Bildungsstudie stellt Viertklässlern schlechtes Zeugnis aus

Im Oktober letzten Jahres ließ schon die IQB-Bildungsstudie aufhorchen: Der „IQB-Bildungstrend“ wird von der Kultusministerkonferenz (KMK) in Auftrag gegeben und durch das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt. Darin wurde festgestellt, dass sich die Leistungen der Viertklässler in den Fächern Deutsch und Mathematik im Jahr 2021 im Vergleich zu vorangegangenen Untersuchungen 2011 und 2016 deutlich verschlechtert haben. Konkret hat jeder fünfte Viertklässler Probleme mit dem Lesen sowie Rechnen und sogar jeder dritte mit der Rechtschreibung.

Der rückläufige Leistungstrend, teilte die Kultusministerkonferenz mit, habe sich seit 2016 noch verstärkt und sei auch nicht unbedingt der Corona-Pandemie, dem Lockdown oder dem Unterrichtsausfall anzulasten. Besonders der soziale Hintergrund der Schülerschaft beeinflusse den Bildungserfolg. Dabei fallen vor allem Kinder mit Migrationsbiografie auf. Die Wissenschaftler werteten die Daten von mehr als 26.000 Schülerinnen und Schülern der vierten Jahrgangsstufe von rund 1.400 Schulen aus.

Nationaler Bildungsbericht kritisiert Lehrermangel

Anfang dieses Jahres stellte der Bundestag den Nationalen Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2022“ vor. Diese Untersuchung liefert alle zwei Jahre Zahlen und Entwicklungen aus allen Bildungsbereichen, angefangen von der frühkindlichen Bildung bis zur beruflichen Weiterbildung. Der nationale Bildungsbericht wird im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des Bundesbildungsministeriums von unabhängigen Forschern verschiedener wissenschaftlicher Institute erstellt.

Laut Studie wird der Fachkräfte- und Personalmangel in Schulen und Kindertageseinrichtungen zu einem immer massiveren Problem. „In der vorschulischen Bildung fehlen nach Daten des nationalen Bildungsberichts bis 2025 geschätzt 72.500 Fachkräfte, an den allgemeinbildenden Schulen werden zusätzlich 17.300 Lehrkräfte und an den berufsbildenden Schulen 13.200 Lehrkräfte bis 2030 benötigt“, sagt Annette Kuhn vom Deutschen Schulportal der Robert Bosch Stiftung. Der Nationale Bildungsbericht untermauert ferner den bereits bekannten Zusammenhang zwischen dem Bildungserfolg und der sozialen Herkunft von Schülern, worauf auch andere Bildungsstudien, nicht zuletzt die Pisa-Studie oder das IQB-Bildungsbarometer, immer wieder hinweisen.

„Alarmierende“ IGLU-Studie: Leseprobleme nehmen zu

Alarmierend“ nannte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zudem die im Mai 2023 vorgestellten Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), die in Deutschland unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Nele McElvany vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund durchgeführt wird. Wie der IQB-Bericht zeigt auch die aktuelle IGLU-Studie einen deutlichen Leistungsabfall der Jungen und Mädchen beim Lesen: Demnach erreichen 25 Prozent der Viertklässler in Deutschland nicht das Mindestniveau beim Lesen, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre. 2017 lag der Anteil dieser Gruppe noch bei 19 Prozent. Nicht nur deshalb warnen die Studienautoren, dass „die verschiedenen ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten kaum Wirkung im Hinblick darauf gezeigt [haben], den Bildungserfolg sowie die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland zu verbessern.“

OECD: Zahl der Menschen ohne Bildungsabschluss in Deutschland wächst

Eine weitere Studie, die den Leistungsabfall der Bundesrepublik im Bildungs- und Ausbildungsbereich veranschaulicht, ist die jüngst veröffentlichte Vergleichsstudie „Bildung auf einen Blick“ der OECD. Darin weisen die Autoren des Berichts darauf hin, dass der Anteil junger Erwachsener mit einer klassischen Berufsausbildung in Deutschland stark zurückgegangen ist. Im vergangenen Jahr konnten 38 Prozent der 25- bis 34-Jährigen einen Berufsabschluss vorweisen, 2015 waren es noch 51 Prozent. Der Rückgang in Deutschland sei der größte in allen OECD-Staaten. Die Experten sprechen in der Untersuchung außerdem von einer wachsenden „Bildungspolarisierung“: Auf der einen Seite wächst der Anteil derjenigen 25- bis 34-Jährigen, die einen höheren Bildungsabschluss haben (2015: 30 Prozent; 2022: 37,5 Prozent). Auf der anderen Seite steigt jedoch die Zahl der jungen Erwachsenen („young adults“), die maximal einen mittleren Schulabschluss ohne eine weitere Qualifikation wie eine Berufsausbildung besitzen (2015: 13 Prozent; 2022: 16 Prozent).

Überdies spricht die OECD von einem besonderen Druck, dem das deutsche Bildungssystem ausgesetzt sei, und nennt als Gründe den Lehrkräftemangel und mehr eingewanderte Minderjährige als in anderen Ländern. Diese Kinder und Jugendlichen müssten zunächst in das System integriert werden, was Ressourcen in Anspruch nehme. Der Hintergrund und das Profil der Migranten könnten aber auch als Chance gesehen werden: „Die Anerkennung vorhandener Kompetenzen bietet nicht nur klare wirtschaftliche Vorteile für die Einzelnen und ihre Beschäftigungsaussichten, sondern kann auch ihr Selbstwertgefühl und ihr Vertrauen auf persönlicher Ebene stärken“, so die Autoren der Studie.

Nötige Bildungsreformen im Land der Dichter und Denker

Angesichts der demografischen Entwicklung und des künftig steigenden Fachkräftemangels ist Deutschland gezwungen, sein Bildungs- und Ausbildungssystem zu reformieren, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. In der Bundesrepublik scheitern noch immer viel zu viele unentdeckte Talente aufgrund ihrer sozialen Herkunft. Die Integration bildungsferner Nichtakademikerkinder in das Schulsystem kann und muss besser gelingen. Diese Schüler aus bildungsfernen Familien befinden sich oftmals in einem Teufelskreis, weil auch ihre Nachkommen genauso wie ihre Vorfahren bildungsfern bleiben.

Ein Bildungssystem, das Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sozialen, wirtschaftlichen oder teilweise gar ethnischen Herkunft in Förder- und Sonderschulen abschiebt, ist im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr zeitgemäß. Diese Benachteiligung muss ein Ende haben. Angefangen von der frühkindlichen Förderung, dem Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen über die Etablierung eines sozioökonomisch gerechten Schulsystems bis hin zu einer bundesweiten Ausbildungsoffensive und mehr Praxisbezug im Studium, sind viele Reformen notwendig. Diese Korrekturen werden nicht nur dem Wohlstand und der Wirtschaft des Landes der Dichter und Denker nutzen. Diese Innovationen sind auch Garanten für eine funktionierende Demokratie und die Stabilität des politischen Systems.


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