Der Morgen nach dem Putschversuch auf der Bosporus-Brücke (Others)
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In der Nacht des 15. Juli 2016 plante eine illegale Splittergruppe von Putschisten außerhalb der regulären Befehlskette des Militärs, die Macht zu übernehmen, die türkische Regierung zu stürzen und den Präsidenten zu ermorden. Da die Putschisten der Fethullaistische Terrororganisation (FETÖ) wenige Stunden vor ihrem Umsturzversuch aufflogen, wurde der Putsch um einige Stunden vorgezogen und letztendlich erfolgreich abgewehrt. Eine Zusammenfassung dieser langen, dunklen Nacht:

Ein Glück, dass die Putschisten ihren hinterhältigen Plan vorzogen

Am späten Nachmittag des 15. Juli nach 16 Uhr kam ein Major der türkischen Heeresflieger zum Hauptquartier des türkischen Nachrichtendienstes (MIT). Er vertraute sich den Mitarbeitern der Behörde an und sprach von einem bevorstehenden Angriff von Soldaten auf das Hauptquartier des MIT in Ankara. Daraufhin kam die Leitung des Nachrichtendienstes mit den Befehlshabern des Heeres zusammen, um die Lage zu analysieren. Am Abend gegen 18:30 Uhr setzte sich Generalstabschef Hulusi Akar mit dem Operationszentrum der türkischen Streitkräfte in Verbindung und gab Order, den türkischen Luftraum für alle militärischen Flüge zu sperren. Außerdem wurden alle Bewegungen von Panzern oder gepanzerten Fahrzeugen verboten. Genau dies führte zu den ersten Unruhen innerhalb der Putschisten. Die Vermutung der Verschwörer, sie seien zumindest teilweise aufgeflogen, zwang sie, den Zeitpunkt ihres hinterhältigen Vorhabens von 03:00 Uhr (16. Juli) auf 21:00 Uhr (15. Juli) vorzuziehen.

Luftwaffenbasis Akıncı als Hauptquartier der Putschisten

Kurz nach 20 Uhr bildeten die Putschisten eine Einheit von 33 Soldaten aus den Reihen der Spezialeinheiten des Heeres auf der 4. Hauptluftwaffenbasis Akıncı. Diese Basis war eine Art Hauptquartier der Gülenisten. Die Verschwörer gaben ihren Soldaten den Befehl, das Hauptquartier des Generalstabs zu besetzen. Entgegen den vorhergehenden Befehlen von Stabschef Akar hoben die Putschisten, die inzwischen die Kontrolle über die Operationszentrale der Luftstreitkräfte übernommen hatten, das Verbot für den militärischen Luftverkehr auf. Durch diesen Schachzug konnten die von den Verschwörern gekaperten Kampfjets wieder fliegen.

Die Entführung des Generalstabschefs Akar

Gegen 21 Uhr platzte Mehmet Dişli, Generalmajor und einer der Köpfe der Putschisten, der etwa eine halbe Stunde zuvor im Generalstab eingetroffen war, in das Büro von Generalstabschef Hulusi Akar. Er forderte den Stabschef auf, sich dem Putsch, der bereits im Gange war, anzuschließen. Dişli verlangte von Akar die Unterschrift unter eine von den Putschisten verfasste Erklärung. Der Generalstabschef ließ den Verräter abblitzen. Daraufhin befahl Dişli den vor der Tür patrouillierenden Putschisten, den Generalstabschef zu verhaften. Die Putschisten traktierten Akar. Ihm wurde eine Pistole an die Schläfe gesetzt und ein Gürtel um den Hals gelegt. Die Verschwörer banden den Hüftriemen so stark zu, dass die Blutergüsse am Hals des Generalstabschefs noch Tage nach dem Putschversuch deutlich sichtbar waren. Anschließend wurde Akar mit Handschellen gefesselt zur Luftwaffenbasis Akıncı geflogen. Die Kontrolle des Generalstabs lag nun in den Händen der FETÖ Militärjunta.

Putschisten besetzen strategische Orte

Etwa zur gleichen Zeit besetzten 80 bis 85 schwerbewaffnete Soldaten, die ebenfalls FETÖ angehörten, das Hauptquartier der Gendarmerie. Die Putschisten sperrten an zahlreichen Verkehrsknotenpunkten die Durchfahrten, so auch die Bosporus-Brücke in Istanbul. Alles erweckte den Anschein einer konzertierten Aktion der Gülen-Junta. Zudem rückten die Putschisten mit Panzern zum Flughafen Atatürk in Istanbul vor und nahmen den Kontrollturm ein. Außerdem wurden mehrere Sendezentralen sowohl von privaten als auch öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten besetzt.

Binali Yıldırım: „Aufstand“

Die erste Gegenwehr gegen die Putschisten begann etwa um 22:30 Uhr mit dem dringenden Ruf der Polizei an alle ihre Mitarbeiter zum sofortigen Dienstantritt. Um 23:10 Uhr Ortszeit, also 40 Minuten nach der allgemeinen Mobilisierung der Polizei, ging der damalige Ministerpräsident Binali Yıldırım mit seinem Mobiltelefon über den privaten Nachrichtensender NTV live auf Sendung, um die Öffentlichkeit offiziell darüber zu informieren, dass eine „kleine Gruppe“ innerhalb der Streitkräfte einen „Aufstand“ gestartet habe, und dass die Sicherheitskräfte den Auftrag erhalten hätten, „alles Notwendige zu tun“, um gegen diesen Putschversuch vorzugehen.

Luftangriffe und Putschproklamation

Ungefähr zur gleichen Zeit begannen die Luftangriffe der Gülen-Junta auf Regierungsgebäude, den Nachrichtendienst, die Polizei und weitere Objekte der regierungstreuen Sicherheitsbehörden. Später wurde auch die Nationalversammlung mehrmals aus der Luft angegriffen und schwer beschädigt. Unter anderem bombardierten F-16-Kampfjets und Hubschrauber das Hauptquartier der Lufteinsatzkräfte der Polizei in Ankara-Gölbaşı. Auch das Sondereinsatzzentrum der Polizei wurde aus der Luft angegriffen. 53 Spezialkräfte kamen bei diesen feigen Angriffen ums Leben. In Ankara ertönten an unterschiedlichen Orten zahlreiche Explosionen. Zu dieser Zeit begannen die ersten Menschen, vereinzelt auf die Straßen zu strömen und sich gegen den Putschversuch zur Wehr zu setzen. Genau um Mitternacht übernahmen die Putschisten die staatliche Sendeanstalt TRT und zwangen die Nachrichtenmoderatorin Tijen Karas, im Namen eines angeblichen „Ausschusses für die Herstellung von Frieden im Lande“ eine Proklamation vorzulesen. Darin wurde behauptet, dass die türkischen Streitkräfte die Regierung übernommen hätten.

Der Wendepunkt: Präsident Erdoğan ruft die Menschen auf die Straßen

Nur wenige Minuten nachdem der Coupversuch über den Fernsehsender der Öffentlichkeit verkündet wurde, kam der entscheidende Wendepunkt der Putschnacht: Präsident Recep Tayyip Erdoğan stellte über FaceTime eine Verbindung mit dem privaten Nachrichtensender CNN Türk her. Erdoğan rief die Menschen auf die Straßen und die öffentlichen Plätze. Die Bevölkerung sollte sich dem heimtückischen Gülen-Mob widersetzen und die Demokratie im Lande verteidigen. Daraufhin strömten Massen von Menschen nach draußen und stellten sich den Putschisten in den Weg. Viele von ihnen wurden dabei von den Putschisten rücksichtslos erschossen.

Erdoğan kommt nach Istanbul und übernimmt die Kontrolle

Präsident Erdoğan, der sich zu Beginn des Putschversuchs mit seiner Familie in Marmaris im Urlaub befand, entschied im Laufe des Abends ,nach Istanbul zu fliegen. Kurz nachdem er sein Hotel verließ, wurde dieses von den Putschisten angegriffen. Das Ziel: Erdoğan tot oder lebendig zu holen. Eine Gülen-Kommandoeinheit stürmte das Hotel und tötete zwei Polizisten, einer von ihnen aus dem Leibwächterteam des Präsidenten. Um 4 Uhr morgens erreichte das Präsidentenflugzeug den Flughafen Atatürk in Istanbul. Zu diesem Zeitpunkt waren der Kontrollturm und das Rollfeld bereits wieder befreit. Erdoğan sprach vor der auf ihn wartenden Menschenmenge und nannte den Staatsstreich einen „Akt gegen die nationale Einheit und Souveränität von Türkiye“.

Putschversuch bricht zusammen

Ortswechsel: An der Bosporus-Brücke verschossen die Putschisten derweil ihre letzten Munition. Gegen 7 Uhr, also nach stundenlangen Schüssen auf unbewaffnete Zivilisten, ergaben sich die Putschisten auf der Brücke. Im Laufe der Nacht wurden allein hier 37 Zivilisten getötet und Hunderte schwer verletzt. Der Putsch schien in sich zusammengebrochen zu sein. Denn eineinhalb Stunden später wurde auch Generalstabschef Hulusi Akar vom Luftwaffenstützpunkt Akıncı befreit und in die Hauptstadt zurückgebracht. Auf der anderen Seite begannen um etwa 9:40 Uhr Hunderte von Putschisten, die den Generalstab eingenommen hatten, sich der Polizei zu ergeben. Auch der Luftwaffenstützpunkt Akıncı, welcher als Hauptquartier für den Putsch diente, wurde noch vor dem Mittag des 16. Juli zurückerobert. Um 11 Uhr gab der stellvertretende Generalstabschef Ümit Dündar bekannt: „Unser Präsident, der Premierminister, die Minister und die Nationalversammlung haben sich in voller Solidarität mit den türkischen Streitkräften auf die Seite der Demokratie und des Rechts gestellt und diesen Putschversuch verhindert.“ Damit überstand Türkiye diese lange, dunkle Nacht.

Türkiye übersteht eine harte Bewährungsprobe

Der Putschversuch des 15. Juli stellte eine harte Bewährungsprobe für die türkische Demokratie dar. Der Tag steht seitdem für die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts des türkischen Volkes und die Wahrung von Freiheit und Demokratie. Zugleich gilt der 15. Juli als ein Entgegentreten gegen jegliche Verfassungsfeinde. Seit dem Umsturzversuch wird der 15. Juli in Türkiye als „Tag der Demokratie und nationalen Einheit“ begangen.

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