Menschen mit Behinderung müssen in den Kliniken von den Angehörigen gepflegt werden.  (dpa)
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Es ist das Problem einer kleinen Bevölkerungsgruppe, aber für die Betroffenen ist das Problem riesengroß: Wenn Menschen mit schweren Behinderungen in ein Krankenhaus müssen, verlangen viele Kliniken mehr oder weniger offen, dass ein Angehöriger mitkommt - um den Patienten zu pflegen. Das Problem ist schon lange bekannt, eine Lösung nicht in Sicht. Dabei könnte es sich gerade jetzt, in der Corona-Krise, massiv verschärfen. „Das sind ja oft Menschen, die eine Vorerkrankung haben, wo das Immunsystem besonders belastet ist, die besonders anfällig sind“, sagt Katja Kruse vom Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (BVKM). Damit steige die Wahrscheinlichkeit, dass die vom Coronavirus ausgelöste Lungenkrankheit Covid-19 einen schweren Verlauf nehme - und die Betroffenen in einem Krankenhaus behandelt werden müssten. Viele Angehörige werden sich dann nicht nur Sorgen um den Patienten machen, sondern auch darüber, wie sie dessen Pflege sicherstellen.

Klinik kann die Pflege nicht sicherstellen

Denn was für den Normalmenschen selbstverständlich ist, nämlich in der Klinik angemessen ver- und umsorgt zu werden, gilt für Menschen mit geistigen oder komplexen Behinderungen nicht uneingeschränkt: „Es ist schon vorgekommen, dass Krankenhäuser nicht bereit waren, Menschen aus diesem Personenkreis aufzunehmen, wenn nicht eine Begleitperson bereitstand, um die Pflege zu übernehmen“, schildert Kruse. „Oder Krankenhausaufenthalte werden verkürzt, weil die Klinik die Pflege nicht sicherstellen kann.“

Konstanze Riedmüller aus Pullach bei München kennt diese Situation aus eigener Erfahrung. Ihr 18-jähriger Sohn Johannes kann nur Finger, Hände, Arme und Kopf fahrig bewegen und darüber hinaus ausschließlich mit „Ja“, „Nein“ und seiner Mimik kommunizieren. Als er kürzlich eine Routine-OP benötigte, bedeutete das für die Familie wieder einmal den Ausnahmezustand: Fünf Tage wechselten sich die Eltern rund um die Uhr mit Wickeln, Füttern und Umlagern ab. Dabei sind beide berufstätig. „Wenn ich dann Kinderkrankengeld beantrage und bekomme mein Gehalt gekürzt, obwohl ich eine gesellschaftliche Aufgabe mache - denn es ist ja eigentlich Aufgabe der Klinik, die Menschen dort zu versorgen -, macht mich das schon wütend“, erzählt die Juristin, die sich auch als Vorsitzende des Landesverbands Bayern für körper- und mehrfachbehinderte Menschen engagiert. Zumal das Kinderkrankengeld pro Elternteil auf zehn Tage begrenzt ist, Menschen mit Behinderung aber oftmals häufiger und länger krank sind als andere. Ihre Angehörigen sind dann auf unbezahlten Urlaub angewiesen - so die Arbeitgeber dies auf Dauer mitmachen.

Hauptproblem ist der Mangel an Pflegekräften

Dass Riedmüller kein Einzelfall ist, wird von vielen Seiten bestätigt. „Das Hauptproblem ist der Mangel an Pflegekräften. Das heißt, dass die Pflegekräfte, die da sind, eine extrem verdichtete und belastete Arbeitssituation haben, die schon per se kaum zu schaffen ist“, erläutert der Leiter des sozialpädiatrischen Zentrums im Haunerschen Kinderspital in München, Florian Heinen. „Und jetzt kommt dazu noch jemand, der einen wesentlich höheren Bedarf hat, weil er sich nicht alleine im Bett umdrehen kann, weil er ganz oft abgesaugt werden muss, weil er nachts im Abstand von einer halben bis eineinhalb Stunden in eine andere Position gelegt werden muss, weil er nicht innerhalb kurzer Zeit gefüttert werden kann, ohne sich zu verschlucken.“ Die Folge laut Heinen: „Da gibt es nur die Lösung, dass man ganz pragmatisch sagt: Liebe Eltern, bitte kommt mit dazu und helft uns.“ Ethikrat: „Aus ethischer Perspektive ist das ein absolutes No-Go“

Andreas Lob-Hüdepohl vom Deutschen Ethikrat findet deutliche Worte: „Diese Praxis, die nicht ungewöhnlich ist, ist ganz klar menschenrechtswidrig.“ Er fügt hinzu: „Es trifft übrigens nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern beispielsweise auch ältere Menschen mit Demenz. Was das Problem nicht besser macht.“ Besonders mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention dürfe die medizinische Versorgung gerade nicht davon abhängig gemacht werden, ob ein Patient zusätzliches „Equipment“ in Form eines Pflegers mit ins Krankenhaus bringt. „Aus ethischer Perspektive ist das ein absolutes No-Go, das geht gar nicht!“ Im bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege ist das Problem seit Jahren bekannt. Schon 2012 gab es einen Runden Tisch, in dessen Folge eine Broschüre mit konkreten Empfehlungen für Krankenhausträger erarbeitet wurde, um den Klinikaufenthalt für Menschen mit Behinderung zu verbessern. Zugleich wurde deutlich, dass das Hauptproblem, „die Finanzierung einer vertrauten Bezugsperson im Fall einer Begleitung in ein Krankenhaus, einer Änderung der Rechtslage auf Bundesebene bedarf“, wie es aus dem Münchner Ministerium heißt. Das Bundessozialministerium verweist an das Bundesgesundheitsministerium, und dieses wiederum zurück an die Länder. Diese müssten die Behandlungsverpflichtung der Krankenhäuser sicherstellen, wonach die Kliniken jeden - auch behinderten - Patienten bei entsprechendem medizinischem Bedarf aufnehmen müssen. Eine Sprecherin betont zudem, dass der erhöhte Aufwand in der Pflege seit Jahresbeginn extra vergütet und 1:1 übernommen werde. Dadurch könnten zusätzliche Pflegekräfte eingestellt und bezahlt werden.

Flächendeckend viel zu wenige Fachkräfte Doch von diesen Fachkräften gibt es flächendeckend viel zu wenige. „Hier schlägt der Pflegenotstand wirklich in voller Wucht durch und trifft diejenigen, die sich aufgrund ihrer Lebenssituation ohnehin unter besonderer Belastung befinden: Die Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen“, kritisiert Lob-Hüdepohl. Klinikchef Heinen fordert deshalb, die „Finanzierungsmauer“ zwischen ambulanter und stationärer Pflege endlich einzureißen. „Es müsste möglich sein, dass jemand, der den Patienten aus der ambulanten Pflege kennt, diesen für einen Zeitraum X auch stationär begleiten kann“, fordert Heinen. „Denn zu verstehen, ob jemand Durst oder Hunger hat, ob jemand auf Toilette muss, hängt zum Teil schlicht davon ab, dass man sich kennt.“

Pflege erfolgt unentgeltlich

Bislang aber bekommen nur Betroffene, die im Rahmen des Arbeitgebermodells ihre Pflege selbstständig organisieren, ihre vertrauten Begleiter auch in der Klinik finanziert. Bei Angehörigen werden nur das Essen und die Übernachtung von den Kassen bezahlt, die Pflege erfolgt unentgeltlich. Und wenn Heimbewohner ihre vertrauten Betreuer mitnehmen wollen, so scheitert dies meist daran, dass keinerlei Finanzierung vorgesehen ist, um diese in den Pflege- und Wohnheimen zu ersetzen.

Der BVKM fordert deshalb seit vielen Jahren wie die Lebenshilfe auch einen expliziten Rechtsanspruch auf Assistenz im Krankenhaus. Doch trotz Runder Tische und Fachtagungen sieht es derzeit nicht so aus, als ob bald etwas passiert. Was Johannes' Mutter fürchterlich ärgert: „Das Problem kennen alle“, betont Riedmüller. „Aber dann muss man es lösen. Oder ehrlich sagen: Wir lösen es nicht.“

dpa