Mahya an der Taksim-Moschee mit dem Ausspruch „Hoş geldin Şehr-i Ramazan“ (Willkommen, o Ramadan) (AA)
Folgen

Wer jemals während des heiligen Fastenmonats Ramadan (türkische Aussprache: Ramazan) in Istanbul oder einer anderen türkischen Stadt war, dem wird die zu dieser Zeit herrschende besondere Atmosphäre in Erinnerung geblieben sein. Dazu gehören die mahya genannten Lichterketten, die allenthalben zwischen den Minaretten der Moscheen gespannt sind.

Die Ursprünge des mahya-Aufhängens

Das Wort mahya leitet sich von seinem osmanischen Vorgängerausdruck mâhiye ab, der soviel wie „das Monatliche“ bedeutet. Der Wortsinn bezieht sich somit auf die Dauer des Beleuchtungsschmucks, der nur im Monat Ramadan zu sehen ist. Grundbestandteil von mâhiye ist das neupersische Wort mah, das wiederum etymologisch mit dem deutschen „Monat“ zusammenhängt. Wie so oft, zeigt sich über die Wortgeschichte auch hier, dass Sprachen und Kulturen niemals getrennt voneinander existieren.

Als älteste bildliche Darstellung einer mahya gilt eine Seite aus der Reisebeschreibung des evangelischen Predigers und Reisenden Salomon Schweigger (1551-1622). Man sieht auf der Abbildung, die auf die Zeit von Schweiggers Aufenthalt in Istanbul im Jahr 1578 zurückgehen muss, eine zwischen zwei Minaretten gespannte Verbindungslinie, von der wohl Öllampen herabhängen. Einige davon sind zu einem Kreis arrangiert, andere zu einem Halbkreis. Dies lässt sich möglicherweise als Anspielung auf die Begriffe „Mond“ oder „Monat“ verstehen, die im Türkischen durch ein und dasselbe Wort (ay) ausgedrückt werden können.

Türkische Tradition

Das Aufhängen von mahyas zwischen Minaretten findet sich so gut wie ausschließlich im türkisch geprägten Teil der islamischen Welt, einschließlich ehemals von Türken beherrschter Gebiete wie Albanien. Seine höchste Entwicklung hat dieser Brauch wenig überraschend in Istanbul gefunden. Er lebt aber auch in Städten wie Eskişehir, Bursa und Edirne fort.

In Abweichung von der eher rudimentären Darstellung bei Schweigger wurde es im Osmanischen Reich bald Usus, auch Schriftzüge in die mahyas einzuarbeiten. Die Idee soll auf den Kalligraphen Hafız Ahmet Kefevi zurückgehen. Er habe im Jahr 1614 zunächst Darstellungen von buchstabenverzierten mahyas en miniature hergestellt. Sultan Ahmed I. (Regierungszeit 1603 bis 1607) gefielen diese Kalligraphien angeblich so gut, dass er die Verwendung von Schriftelementen auch in den mahyas selbst erlaubte. Voraussetzung war natürlich, dass der Rahmen des religiös und sittlich Erlaubten immer gewahrt blieb.

In der eskapistischen Tulpenära (1718-1730), in der sich die Osmanen nach einer Serie von außenpolitischen Rückschlägen oft gerne mit sich selbst und allerlei Zerstreuungen beschäftigten, wurde die Verbreitung von mahyas auf Betreiben des Großwesirs Nevşehirli Damat İbrahim Paşa begrenzt. Der Großwesir – der übrigens genauso lange seines Amtes waltete, wie die Tulpenära anhielt – schränkte den Gebrauch der Zieraufhängungen auf von einem Sultan errichtete Moscheen mit mindestens zwei Minaretten ein.

Spätestens ab dieser Zeit war das Platzieren von mahyas ein untrennbarer Bestandteil der religiösen Kultur des Osmanischen Reichs. Die große Beliebtheit dieses Minarettschmucks zeigte sich auch daran, dass an der wunderschönen Mihrimah-Moschee in Üsküdar zusätzlich zum ursprünglich einzigen Minarett noch ein weiteres hinzugefügt wurde, um das Gotteshaus für den beliebten Brauch geeignet zu machen.

Etappen der Beleuchtungskunst

Beim Herstellen und Anbringen von mahyas entfalteten die osmanischen Künstler und Techniker die ganze Bandbreite ihrer Fähigkeiten.

Zusätzlich zu den äußerlich zwischen Minaretten angebrachten mahyas wurden einige dieser Zierbanner auch innerhalbbedeutender Moscheen angebracht. Ferner gab es mahyas, deren verschiedene Darstellungselemente durch Seilmechanismen ihre Positionen wechseln konnten. Und es kam vor, dass an den Tragseilen befestigte Süßigkeiten als Geschenke verteilt wurden.

Entwurf, Vorbereitung und Herstellung der mahyas stellten eine anspruchsvolle handwerkliche und künstlerische Leistung dar, so dass sich die größeren Moscheen im Laufe der Zeit jeweils einen mahyacı (etwa „Mahya-Meister“) hielten. Im Stadtteil Fatih gab es sogar eine spezielle Schule, an der man dieses Kunsthandwerk erlernen konnte.

Zu den der Traditionen, die sich im Zusammenhang mit der „Kunst des mahya-Herstellens“ (mahyacılık) herausbildeten, gehörte eine bestimmte zeitliche Struktur. Demzufolge wurden bis zum 15. des Monats Ramadan Schriftzüge, in der Zeit von dann bis zum Ende des heiligen Monats dagegen bildliche Darstellungen befestigt.

Wohl eine der tiefgreifendsten Veränderungen bei der Verzierung osmanischer Städte mit mahyas dürfte das Ersetzen der ursprünglichen Öllampen aus Glas durch elektrisches Licht gewesen sein. Dieses setzte sich ab der Republikgründung (1923) vollends durch und verbreiterte das Spektrum der optischen und künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten erheblich.

Mahyas als Forum des gesellschaftlichen und politischen Diskurses

Eine der interessanten Facetten des Phänomens mahya ist, dass es zu verschiedenen Zeiten zum Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Strömungen und Entwicklungen diente. So, wie man etwa an den Chanukka und Weihnachten begleitenden Festlichkeiten immer auch den Geist der jeweiligen Zeit ablesen kann, spiegelte vor allem der Inhalt der zwischen den Minaretten aufgehängten Schriftzüge immer wieder auch aktuelle Entwicklungen wider.

Natürlich dominierten zu allen Zeiten fromme Wünsche und Invokationen religiöser Natur. In den ersten Tagen des Ramadans kann man dessen Anbrechen etwa mit Inna fatahna laka fathan mubinan („Wir haben dir eine deutliche Eröffnung beschert“, ein arabisches Zitat vom Beginn der 48. Koransure) oder Hoş Geldin Ey Şehr-i Ramazan!„Willkommen seist du, o Monat Ramadan!“) begrüßen. Häufig sind auf den mahyas natürlich Anrufungen Allahs, etwa Ya Allah! („O Allah!“) oder Ya Rahman! („O Erbarmer!“). Am Ende der Fastenzeit kann es schlicht Elveda! „Lebe wohl!“ heißen.

Doch je nach politischer beziehungsweise geopolitischer Wetterlage wurden auch Botschaften aufgehängt, die zusätzlich zu der immer mitschwingenden religiösen Dimension auch deutlich ins Politische oder sogar Militärische hineinspielten. Während der Balkankriege (1912-1913) und des Ersten Weltkriegs – die zu den größten Krisenzeiten der osmanischen beziehungsweise türkischen Geschichte gehören – war etwa „Vergiss den Roten Halbmond nicht“ (Hilal-i Ahmeri Unutma) oder „Vaterlandsliebe ist ein Element des Glaubens“ (Hubbü´l-Vatan Mine´l-İman) zu lesen. In der Zeit nach dem Türkischen Unabhängigkeitskrieg (1919-1922) sind unter anderem die mahya-Inhalte „Es lebe die Unabhängigkeit“ (Yaşasın İstiklâl), „Es lebe unser Gazi (d.h. Mustafa Kemal, der spätere Atatürk)“ (Yaşasın Gazimiz) oder auch Tayyareye Yardım! „(Leistet) Hilfe für die Flugzeugflotte!“ belegt. In jüngerer Zeit sind auch mahyas populär geworden, die sich gegen Alkoholkonsum und andere Laster richten.

So gesehen, spiegelt die mahya, dieses kleine Detail der alljährlichen Ramadan-Feierlichkeiten in der Türkei, zahlreiche Aspekte der türkisch-islamischen Kulturgeschichte wider. Mahyas bieten also nicht nur dem Auge Genuss und der Seele Erbauung, sondern auch Nahrung für den Geist.

Ich wünsche allen Muslimen einen gesegneten Ramadan und dass ihre Gebete Erhörung finden mögen!