Symbolbild. Ein Elfjährige soll durch ihren Stiefvater Lkw-Fahrern zum Missbrauch angeboten worden sein. (dpa)
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Sexueller Missbrauch von Kindern und die Rolle von Frauen: Bei der juristischen Aufarbeitung des Missbrauchskomplexes Münster erhält die Öffentlichkeit einen kleinen Einblick. Der Haupttäter und mehrere Männer wurden bislang verurteilt. Auch die Mutter des Drahtziehers. Sie hatte ihrem Sohn eine Gartenlaube zur Verfügung gestellt und stand im Dialog mit einigen der Täter. Verurteilt wurde sie im Juli 2021 wegen Beihilfe zu fünf Jahren Haft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Ab Donnerstag (5. August) steht eine weitere Frau vor dem Landgericht Münster. Die Mutter eines heute elfjährigen Opfers muss sich wegen Beihilfe zum schweren sexuellen Kindesmissbrauch durch Unterlassen verantworten.

„Grundsätzlich haben wir Frauen als Täterinnen einfach nicht wirklich im Blick“ Julia von Weiler, Psychologin und Vorstand des Opferschutzvereins Innocence in Danger, stellt in Bezug auf sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen fest: „Grundsätzlich haben wir Frauen als Täterinnen einfach nicht wirklich im Blick. Bisherige internationale Studien sagen aber, dass immerhin 10 bis 30 Prozent aller Taten von Frauen begangen werden.“ Nach Auskunft von Staatsanwaltschaft und Polizei sind die Ermittler im Missbrauchskomplex Münster bislang auf keine Frauen als aktive Täterinnen gestoßen. Von Weiler definiert den Begriff des aktiven Handelns anders als Juristen. Der Angeklagten im Missbrauchskomplex wird vorgeworfen, den schweren sexuellen Missbrauch ihres heute elfjährigen Sohnes durch ihren Lebensgefährten nicht verhindert zu haben, obwohl sie davon wusste. Der IT-Techniker wurde im Hauptprozess zu 14 Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Die Mutter soll spätestens seit Oktober 2018 gewusst haben, dass ihr Lebensgefährte sich wiederholt an ihrem Sohn vergangen hat. Sie soll Vergewaltigungen mitbekommen und nicht verhindert haben. Zu den Vorwürfen schweigt sie.

Anwesenheit von Müttern, Tanten oder Großmüttern nicht überraschend Von Weiler verweist auf ein Phänomen. Bei Misshandlungen von Kindern sei die Gesellschaft bei Müttern, Tanten oder Großmüttern nicht überrascht. „Da finden wir das irgendwie auch nicht schön. Aber es überrascht uns nicht. Wenn das Wort sexualisiert vor der Gewalt steht, dann sind wir plötzlich irgendwie erstaunt“, sagt die Expertin. Bei der repräsentativen Mikado-Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2015 wurden Männer und Frauen, Jungen und Mädchen zu sexuellen Erfahrungen und sexuellen Gewalterfahrungen befragt. 11,6 Prozent der jungen Frauen und 5,1 Prozent der jungen Männer waren laut Umfrage von Kindesmissbrauch betroffen. 46,4 Prozent der betroffenen Jungen und Männer sagten wiederum, dass sie mindestens auch einmal sexualisierte Gewalt durch eine Frau erfahren haben. „Das bedeutet zweierlei. Zum einen, dass sie von mehr als einer Person sexualisierte Gewalt erfahren haben und dass darunter sich mindestens einmal auch eine Frau befunden hat. Wenn man sagt, das betrifft knapp die Hälfte der betroffenen Jungs und Männer, ist das schon mal ein Wort. Bei den Mädchen geht die Studie von 10,5 Prozent aus“, erklärt von Weiler. Frauen, die in solche Straftaten verwickelt sind, haben nach Einschätzung der Expertin Selbstzweifel, stellen ihre Menschenkenntnis infrage. „Was hab' ich mir jetzt hier für einen Mann ausgesucht? Und Mütter sind häufig ambivalent und nicht sofort an der Seite ihrer Kinder. Das ist gar nicht unüblich, weil für sie selber natürlich auch noch mal so eine ganze Welt zusammenbricht“, beschreibt die Psychologin.

Abhängigkeit oder sadistische Fantasie Entweder gebe es bei Mittäterinnen eine große Abhängigkeit oder aber eine Form von sadistischer Fantasie, die quasi über den Täter ausgelebt werde. „Das kann ich im Fall Münster von außen nicht bewerten.“ Für viele Frauen sei es ein schleichender Prozess, so etwas auch wirklich zu verstehen. „Und wenn sie es dann wirklich kapieren, sie sich auch schon irre verstrickt, verwickelt und schuldig fühlen, haben sie große Schwierigkeiten, sich mit ihrer Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen“, sagt der Vorstand von Innocence in Danger. Sexualisierte Gewalt an Kindern beginne in aller Regel im engsten Umfeld und dazu gehöre natürlich auch die Familie. „Das bedeutet, wir müssen daraus lernen und Lehren ziehen. Und dafür wäre es natürlich gut und richtig gewesen, wenn das Landgericht Münster auf eine sehr differenzierte und gute Art und Weise die Öffentlichkeit darüber informiert hätte.“ So ein Prozess gehe mit ganz großer Aufmerksamkeit einher. „Da gucken alle hin und das ist so ein Moment, wo man Menschen weiterbilden kann.“ Das Landgericht hatte allerdings bei weiten Teilen des Hauptprozesses die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Für das betroffene Kind sei es wichtig, dass derjenige, der die Tat ausübt, gestoppt wird - und „dass wir als Profis in der Lage sind, unseren Blick zu weiten und uns wirklich alle Beteiligten im Leben dieses Kindes anzuschauen und uns nicht sofort festzulegen“.

dpa