Botschafter Kerem Alkin, Türkei-Vertreter in der OECD. (Kerem Alkin)
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von Muhammed Ali UÇAR

TRT Deutsch sprach mit Prof. Dr. Kerem Alkin. Botschafter Kerem Alkin nahm am 15. März 2021 seine Tätigkeit als ständiger Vertreter der Türkei bei der OECD auf.

Welche Bedeutung haben die von der Türkei im Becken von Sakarya entdeckten Erdgasvorkommen, sowohl für die Türkei selbst als auch für die Energieversorgung der gesamten Region?

Vor allem hat der mit 405 Milliarden Kubikmeter außerordentliche Erdgasfund von Sakarya wichtige Umbrüche initiiert. Wir leben in Zeiten, in denen die Wahrscheinlichkeit als hoch angesehen wird, dass die Gesamtgröße des Fundes diese 405 Milliarden Kubikmeter sogar noch übersteigen wird. Mit anderen Worten besteht durchaus die Möglichkeit, dass wir neue, gute Nachrichten aus dem Schwarzen Meer empfangen werden. Das möchte ich zunächst einmal festhalten.

Der erste Aspekt ist, dass die Türkei in den 90er Jahren aus verschiedenen Gründen auf Erdgas umsteigen musste und mit unterschiedlichen Staaten, insbesondere mit Russland und dem Iran, Abkommen für den Erdgaskauf unterzeichnete. Diese Verträge laufen zum Ende des Jahres aus, und der Fund von 405 Milliarden Kubikmetern Erdgas kann alleine den Bedarf der Türkei für mindestens neun Jahre decken. Damit stärkt der Erdgasfund die Verhandlungsposition der Türkei bei der anstehenden Erneuerung der Kaufverträge mit Russland und dem Iran.

In Anbetracht des globalen Energiemarktes besteht der zweite Aspekt darin, dass es immense Anstrengungen vieler Staaten gibt, insbesondere auch der Türkei, auf erneuerbare Energien umzusteigen. Dies hat die Nachfrage für fossile Brennstoffen wie Erdöl und Erdgas in vielen Staaten etwas gebremst, da der prozentuale Anteil der erneuerbaren Energien zur Deckung des Gesamtenergiebedarfs gestiegen ist. Letztendlich hat dies unweigerlich Auswirkungen auf den globalen Ölpreis. Aus diesem Grund wird die Türkei basierend auf diesem wichtigen zweiten Aspekt von dem in der Vergangenheit an den Ölpreis gekoppelten Erdgaspreis abrücken und dadurch die Möglichkeit haben, unter viel wettbewerbsfähigeren Bedingungen neue Vereinbarungen zu treffen. Wir können sogar sagen, dass dies kurzfristig einen positiven Effekt von 10 bis 15 Milliarden Dollar haben kann und sich entsprechend positiv auf die Energie-Importkosten bzw. das Leistungsbilanzdefizit der Türkei niederschlagen wird. Wenn jetzt bald die Coronakrise überwunden ist und die Zahl der Touristen in der Türkei wieder auf 55 bis 60 Millionen Menschen pro Jahr steigt, generiert dies ein Tourismuseinkommen in Höhe von mindestens 40 Milliarden US-Dollar und senkt im gleichen Zeitraum das Leistungsbilanzdefizit um 10 bis 15 Milliarden US-Dollar, sodass wir in eine Phase eintreten, in der eine langjährige Sorge der Türkei überwunden werden kann.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Vorstöße der Türkei im Bereich der erneuerbaren Energien ihre Abhängigkeit von Erdgas für die Stromerzeugung rapide reduziert. So wird der prozentuale Anstieg des Stroms, der von Solar-, Wind-, Wasser-, Bio-, Geothermie- und weiteren erneuerbaren Energiequellen und -technologien erzeugt wird, innerhalb der Gesamtstromerzeugung sehr interessante weitere Folgen haben. Beispielsweise die Möglichkeit, die im Schwarzen Meer gefundenen Reserven in andere Staaten zu exportieren. Mit anderen Worten kann die Türkei möglicherweise einen Anteil von 100 Milliarden Kubikmeter dieses im Becken von Sakarya gefundenen Erdgases von 405 Milliarden Kubikmetern nach Europa vermarkten und damit zu einem Energieexporteur aufsteigen. De facto wird es wohl 10 Jahre brauchen, bis dieser Wandel vom Energieimporteur zum Energieexporteur vollzogen sein wird. Die Erlangung einer vollständigen Unabhängigkeit der Türkei im Energiebereich eröffnet ihr eine große Manövriermöglichkeit und wird selbstverständlich Auswirkungen auf das regionale Gleichgewicht hinsichtlich Versorgungssicherheit und Wettbewerb in puncto Energie haben und zu Neugewichtungen führen.

Erkennbar ist ein wachsendes Interesse an erneuerbaren Energien anstelle von kohle- oder erdölbasierter Energiegewinnung. Wie würden Sie die Anstrengungen der Türkei bezüglich erneuerbarer Energien bewerten?

Die Türkei überrascht mit ihren Windenergieanlagen, ihrer diesbezüglichen Gesamtkapazität und ihrem Potenzial die gesamte Weltgemeinschaft positiv. Darüber hinaus wurde vergangenes Jahr in Ankara mit einer Investitionssumme von einer Milliarde Dollar eine Fabrik für die Fertigung von Solarstrompanels eröffnet, die eine neue Technologie für Solarenergiegewinnung produzieren soll. Angefangen mit dieser Produktionsstätte wollen wir uns auch im Bereich der Solarenergie weiter behaupten. Die Türkei verfügt im Hinblick auf erneuerbare Energien nicht nur über ein enormes Potenzial, sondern beschleunigt auch dessen technologischen Ausbau, sodass wir Zeuge davon werden können, wie die Türkei in den 2030er Jahren 30 Prozent ihres Energiebedarfs mit erneuerbaren Energien abdeckt. Nimmt man dann noch die Atomenergie hinzu, kann die Türkei alsbald ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen überwinden und sich dadurch rasch zu einer Wirtschaft entwickeln, die einen erheblichen Teil ihres jährlichen Energiebedarfs mit eigenen nationalen Energieressourcen abdeckt und auf Importe nicht mehr angewiesen ist. Dieser Umstand wird die Position der Türkei als regionales und internationales Handelszentrum enorm stärken und sich bei den Erdgaspreisen im Korridor Eurasien-Europa sowohl im Hinblick auf das Leistungsbilanzdefizit als auch bezüglich der Energieverteilung im östlichen Mittelmeerraum bemerkbar machen. In dieser Hinsicht unternimmt die Türkei wichtige Schritte, um eine führende Rolle bei der Festlegung der Preise auf dem Erdgasmarkt einzunehmen, insbesondere in Spot-, aber auch in Terminmärkten. Die zuständigen Einrichtungen haben den Aufbau einer Infrastruktur für diese Märkte bereits abgeschlossen. Die Etablierung dieser Infrastruktur zusammen mit den genannten Vorstößen der Türkei werden dafür sorgen, dass sie bei der Bestimmung und Steuerung der Energiepreise in dieser Region ein größeres Mitspracherecht haben wird. Damit einhergehend werden wir auch sehen, dass unsere Bedeutung für die Sicherheit und Gewährleistung der Energieversorgung zunehmen wird.

Der Schiffsunfall im Suezkanal löste erneut die Suche nach alternativen und sicheren Handelsrouten aus. Welche Rolle kann dabei oder wird die Türkei an dieser Stelle übernehmen können?

Im Allgemeinen verfolgen wir genauestens die Diskussionen über den Bau des Istanbul-Kanals, auch wenn dieses Thema verzerrt durch tagespolitische Debatten vor einigen Tagen auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das war eine äußerst unappetitliche, nächtliche Erklärung. Darüber sind wir natürlich nicht glücklich, zumal es insgesamt eine unglaubliche Desinformationskampagne zur Thematik gibt. Ich möchte Folgendes dazu sagen: Hinsichtlich des Projektes Istanbul-Kanal selbst bzw. seiner Notwendigkeit wird teils einseitig berichtet und werden viele falsche Behauptungen verbreitet, von denen ich hier einige beispielhaft aufführen möchte. Die geplante Tiefe des Kanals von 21 Metern sei eine falsche Entscheidung, heißt es, weil deswegen keine großen Tanker passieren könnten, obwohl beispielsweise der Suezkanal anfangs auch nur eine Tiefe von nur 19,5 Meter aufwies. Dabei haben die Tankschiffe, welche die Exporte der Erdgas- und Ölexporteure der Region vom Persischen Golf und der Straße von Hormuz verschiffen, einen Tiefgang von etwa 20,3 Metern. Letztendlich wurde eine spezielle Grabung am Boden des Suezkanals durchgeführt, mit der die Tiefe von 19,5 Metern auf ungefähr 21,5 Meter erhöht wurde, damit Tanker mit einem Tiefgang von 20,3 Metern den Suezkanal passieren können. Somit wurde der Suezkanal um ungefähr 2 Meter vertieft. Das Projektvorhaben Istanbul-Kanal wird unter Berücksichtigung all dieser internationalen Parameter vorangetrieben. Angesichts der steigenden Anforderungen im Bereich der Sicherung der Energieversorgung dieser Region und der genannten Anforderungen für Tankschiffe können diese Tanker mit einer Tiefe von etwas mehr als 20 Metern den Kanal leicht passieren. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass der Kanal realisiert wird. Diese Tankschiffe, die als Grundlage für die Desinformationskampagnen herangezogen wurden, passieren das Kap der Guten Hoffnung in Afrika in Richtung USA, Kanada, Mexiko oder Lateinamerika, ohne Kanäle zu durchfahren. Der Tiefgang dieser Supertanker beträgt 30 und mehr Meter. Dass auf der Basis dieser Tankschiffe eine Desinformationskampagne betrieben wird und Anschuldigungen gemacht werden, das Projekt Istanbul-Kanal sei falsch konzipiert, ist wirklich traurig. Als würde die Türkei derart große Projekte nicht mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit betreiben. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die jährliche Kapazität von 45.000 Schiffen, die momentan die Dardanellen passieren, auf 100.000 oder 120.000 im Jahr ansteigen wird und uns der Tatsache stellen, dass Istanbul und die Dardanellen diesem Bedarf nicht gerecht werden können. Insofern braucht es Klarheit darüber, dass der Bau dieses Kanals unverzichtbar ist.

Welche Bedrohungen und Chancen erwartet die Türkei in den nächsten Jahrzehnten angesichts der oben genannten Aspekte, insbesondere im Kontext des regionalen und globalen Handels und der Energiepolitik? Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang den EU-Beitrittsprozess der Türkei?

Am Mittwoch, dem 5. Mai, nahmen gleich drei wichtige Entwicklungen ihren Lauf: Die erste bestand darin, dass die Außenminister der G7-Staaten, die sich in London trafen, ernsthafte Mahnungen in Richtung China bezüglich Menschenrechte, insbesondere zur Frage der Uiguren, globalen Handelsregeln und Demokratie gesendet haben. In einer gemeinsamen Erklärung wurde schließlich bekanntgegeben, dass die Beziehungen zu China überdacht werden würden, falls die erforderlichen Fortschritte und Anstrengungen von der chinesischen Seite nicht an den Tag gelegt werden. Unmittelbar nach dieser Erklärung kündigte der Vizepräsident der Europäischen Kommission eine neue Beschaffungsstrategie für Europa an, vor allem für 137 strategische Produkte (darunter Rohstoffe, medizinische, pharmazeutische und weitere wichtige Produkte), und erklärte am selben Tag unter dem Eindruck der durch die Covid-19 Pandemie offenbar gewordenen Defizite, dass man mit der Entwicklung einer neuen Beschaffungsstrategie die Abhängigkeit von China und Fernost verringern wolle. Wenn all diese Entwicklungen dazu führen sollten, dass Europa keine Rohstoffe, Zwischenprodukte und Endprodukte mehr aus China und Fernost beschaffen will, ist es offensichtlich, dass auf der Basis der bisherigen engen wirtschaftlichen Beziehungen der sicherste Beschaffungshafen für Europa die Türkei sein wird. Der wichtigste Indikator dafür ist, dass die Türkei, obwohl sie seit September vergangenen Jahres im globalen Handel aufgrund der Pandemiebedingungen schwere Zeiten durchlebt, auf den Monat bezogene Exportrekorde bricht. So beliefen sich die Exporte im Monat April auf 18,8 Milliarden US-Dollar, eine der höchsten Exportzahlen in der Geschichte des Landes. Dies zeigt wiederum, dass die türkischen Exporte, wenn sich die Zahlen auf diese Weise weiterentwickeln, nunmehr in Richtung 200 Milliarden Dollar im Jahr gehen. Parallel zu diesen Entwicklungen kündigte die chinesische Regierung an, jegliche Handelsbeziehungen mit Australien auszusetzen. Diese Entwicklungen werden aber auch dazu beitragen, dass die Türkei für Russland, China, die USA und die Europäische Union in Bezug auf Handel, Energie, Logistik und Transport die unverzichtbarste Verbindung zwischen Asien, Europa, Afrika und dem eurasischen Hinterland sein wird und daher ein wichtiges Drehkreuz darstellt. Deshalb müssen wir der Europäischen Union immer wieder sagen: Wenn Europa eine nachhaltige Lösung für die nächsten 10 oder 25 Jahre sucht, ist diese nicht weit weg, sondern liegt nebenan, nämlich in der Türkei.

Abschließend: Um Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwickeln, wurde die OECD gegründet, die nun 60 Jahre alt wird. Welche Chancen und Bedrohungen sehen Sie in den nächsten Jahrzehnten für die OECD?

Gemeinsam mit den Gründungsländern einschließlich der Türkei und denen, die später als Mitglied aufgenommen wurden, werden sich die nächsten 10 Jahre der OECD zweifellos auf Wachstum und Entwicklung konzentrieren. Die OECD wird auch wichtige Aufrufe und Schlüsselpositionen zu globalen Werten formulieren. Das habe ich immer betont. Die Tatsache, dass ein Land wie die Türkei eine wichtige Haltung in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte und humanitäre Diplomatie einnimmt und all diese Werte verinnerlicht, zudem eine integrative Entwicklung mit Wachstum für sich selbst und für die Region anstrebt, sollte Vorbildcharakter für viele andere Staaten haben. Genau genommen wurden in den letzten 20 Jahren unnötigerweise strategische Fehler von Staaten begrüßt, die keine Sensibilität in Sachen Demokratie, Menschenrechte und Klimawandel an den Tag legen konnten und im Gegenteil die Umwelt verschmutzten, Menschenrechte und Arbeiterrechte zur Gänze außen vor ließen, zudem sich auf Wachstum fixierten, ohne Fortschritte in Bezug auf Demokratie zu machen.

Wir treten demnächst in eine sehr wichtige Phase, in der die Vereinten Nationen und internationale Organisationen, insbesondere die OECD, wenn die Welt weiter wachsen und sich entwickeln soll, die Botschaft vermitteln muss, dass die globale Wirtschaft nur mit Demokratie und der Schaffung einer gerechten Einkommensverteilung, mit der Gleichstellung der Geschlechter und der Geltung der Menschenrechte, mit dem Schutz des globalen Klimas und der Sicherung der Zukunft unseres Planeten weiterlaufen kann. Die OECD wird dahingehend die Vorreiterrolle übernehmen. Ich denke auch, dass die OECD der Türkei, die in ihrer Region mit globalen Werten agiert, den notwendigen Zuspruch entgegenbringen wird. Institutionen, die sich nicht auf globale Werte stützen, drohen herbe Einbußen. Ich sehe aber bei der OECD diesbezüglich eine wichtige Sensibilität. Um das bestehende internationale Ansehen aufrechtzuerhalten, wird die OECD auch in Zukunft zweifellos die notwendige Sensibilität in diesen Fragen an den Tag legen.

Vielen Dank für das Gespräch!