Der Oberstleutnant der Reserve Hans Jürgen Domani bei einem Einsatz in Afghanistan. (TRT Deutsch / HJ Domani)
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von Ali Özkök Der Oberstleutnant der Reserve und Ex-Vorsitzende der Landesgruppe Sachsen im Reservistenverband, Hans Jürgen Domani, versucht, für in Afghanistan verbliebene Ortskräfte Wege aus dem Krisengebiet zu organisieren. Er ist im Patenschaftsnetzwerk für Ortskräfte aus Afghanistan aktiv. Domani war von 2010 bis 2011 als Verbindungsoffizier in Afghanistan stationiert.
Im Interview sprach er mit TRT Deutsch über US-amerikanische Einsatzkräfte, die deutsches Personal aus dem Kabuler Flughafen drängten, über Gefahren und Versäumnisse und darüber, wer aus seiner Sicht die politische Verantwortung für das Chaos übernehmen sollte.

Wie übersichtlich ist die Lage zurzeit in Kabul im Allgemeinen und auf dem Flughafen im Besonderen - nach den chaotischen Szenen der letzten Tage, die wir gesehen haben?

Also insgesamt sehr unübersichtlich. Sowohl auf dem Flugplatz selbst, weil sich ja noch viele dieser reingestürmten Zivilisten weiter auf dem Flughafengelände aufhalten und man eine zweite Abtrennung zu dem eigentlichen Abflugbereich hat. Außerhalb in der Stadt ist es völlig - sagen wir mal im Wesentlichen - außer Kontrolle und durch die Checkpoints der Taliban sind unkontrollierte Bewegungen nicht mehr möglich. Und meine Kontakte, die versucht hatten, an den Flugplatz zu kommen, sind alle an den letzten Checkpoints direkt vor dem Flugplatz gescheitert.

Sie nehmen derzeit eine heikle Aufgabe wahr. Sie versuchen, noch vorhandene Angehörige oder Helfer der Bundeswehr in Afghanistan oder schutzberechtigte Ortskräfte sicher außer Landes zu schaffen. Wie groß sind unter den gegebenen Umständen noch Ihre Erfolgsaussichten?

Je nachdem, welche Verbindungen einzelne Herrschaften wie ich haben. Wenn man noch einen Ansprechpartner hat, ist es vielleicht möglich, noch einzelne Personen irgendwie durch Seitenwände eines der kilometerlangen Zäune in den Flugplatz zu schmuggeln. Für die 4300 Ortskräfte nur der Bundeswehr, die sich schon in Kabul aufhalten, ist es auf diesem Wege praktisch unmöglich, wenn die Regierung nicht dabei erfolgreich ist, mit den Taliban zu einer Einigung zu kommen. Etwa, dass man diese Kräfte reinholen kann und dafür irgendeine Schutzgebühr bezahlt. Das wäre die eleganteste Lösung für alle Seiten. Dann werden wir viele noch erreichen.

Und es hängt natürlich davon ab, wie lang der Flugplatz offenbleibt. Es gibt ja unterschiedliche Nachrichten. Die Amerikaner sagten „31. August“, dann hieß es „nur noch fünf Tage“. Jetzt sagte Herr Biden, zumindest für die US-Amerikaner bleibt er so lange, bis alle raus sind. Und es gab da Schwierigkeiten, z. B. für Deutsche gestern, die waren ja durch das Tor an den Amerikanern vorbei in den Flugplatz gekommen. Die haben dann, also ich nehme an, deutsche Staatsbürger afghanischer Abstammung zusammen mit den anderen weggescheucht. Das sind natürlich momentan viele Probleme, reinzukommen.

Hans Jürgen Domani im TRT Deutsch Interview. (TRT Deutsch)

Zuletzt gab es Kritik einer Bundesregierung wegen der Verzögerung der Evakuierungen aus Kabul. Gibt es Dinge, die besser organisiert werden könnten? Ja, also es konnte. Man hatte ja rechtzeitig vor über einem halben Jahr seitens der Bundeswehr für die letzten Beschäftigten und deren Familien Visa angefordert. Insgesamt etwa 2400. Es hat aber so lang gedauert, die zu bearbeiten, dass im Prinzip die Bundeswehr schon abgeflogen ist, bevor die Visa ausgeteilt waren und die Bundeswehr zwei bestellte Flugzeuge mit 300 Passagieren wieder abbestellen musste, weil die Insassen ihre Visa nicht rechtzeitig hatten. Und die Grünen hatten ja auch schon im Juni beantragt, dieses Visumverfahren für die restlichen Ortskräfte, die schon früher gekündigt hatten, auch zu öffnen, weil absehbar war, dass diese Menschen bedroht sein würden. Und das wurde ja bis vor zwei bis drei Wochen durch das Innenministerium abgelehnt. Damit haben wir jetzt mit Vertragspartnern etwa 6000 ehemalige deutsche Mitarbeiter und Familien, die vermutlich bedroht sind, die aber noch gar keine Chance hatten, ein Visum zu bekommen. Und seit letztem Freitag hat ja die Bundesregierung dann gesagt: „Okay, kommt alle erstmal nach Deutschland. Wir bearbeiten das Visum hier im Land an, mit Montag sollte ja die Evakuierung dann beginnen, mit den deutschen Flugzeugen.“ Und wie wir ja wissen, ist Kabul am Montag ja völlig zusammengebrochen und damit war auch dieser letzte Strohhalm kurzfristig vernichtet. Das hätte man natürlich schon vor einem halben Jahr in aller Ruhe abwägen können. Es gab zuletzt auch Rücktrittsforderungen an Bundesaußenminister Maas. Sind die verständlich oder haben Sie da grundsätzlich auch Verständnis für die Position der Politik und der Bundeswehr?

Ja, aber das auch abgestuft nach drei Ministerien. Direkt betroffen ist die Bundeswehr. Da sehe ich in dem Falle tatsächlich die wenigste Verantwortung. Die hat wirklich versucht, ihr Personal rechtzeitig mit Visum rauszuholen. Auf der anderen Seite haben wir die maximale Schuld oder Verantwortung: Beim Innenministerium, das bis zum Schluss diese Visumslösungen verhindert hat. Die Grünen hatten ja im Juni das auch im Bundestag zur Abstimmung gestellt, die Menschen rechtzeitig mit der entsprechenden Visabearbeitung nach Deutschland zu evakuieren.

Das wurde durch die Regierungsparteien wegen des Innenministeriums abgewiesen. Auch das eigene Personal des Innenministeriums, also alles, was für die Polizei gearbeitet hat, hat nicht den gleichen Evakuierungs-Status lange Zeit gehabt wie die Bundeswehr. Und dazwischen steht das Auswärtige Amt, wo man auch mit dem eigenen Personal, das für sie arbeitet, zögerlich war.

Wir dachten, man kann dort noch vor Ort bleiben, mit der Botschaft und mit dem Personal. Als man erkannt hat, das ereignet sich alles viel schneller, hat man auch versucht, diese Evakuierung zu koordinieren, also die Stämme, die das koordinieren, sitzen im Auswärtigen Amt. Also das ist so das Mittelding: Bundeswehr wenig, unser Auswärtiges Amt mittelmäßig belastet, am schwersten belastet ist aus meiner Sicht das Innenministerium. Und wenn man möchte, dass jemand zurücktritt, geht das eher in die Richtung des Innenministers.

Jetzt wurde auch bekannt, dass der BND auch den Kollaps dieser Kabuler Regierung viel später erwartet hat. Das wurde eingeräumt. Wie gehen Sie mit solchen Informationen um? Was denken Sie darüber? War das ersichtlich, dass das so kommt, wie es kommt? Also wie bewerten Sie das mit Ihrer Expertise?

Ich sah das mehrstufig. Dass dieses System nicht überleben wird, war jedem klar, der dort gedient hat. Also sie hatten 300.000 Soldaten, sie hatten Finanzen. Sie hätten eigentlich länger Widerstand leisten können. Also bis in das erste Quartal, dachte ich selber, vielleicht bis Ende nächsten Jahres. Dann ging das aber ziemlich schnell in den Außenprovinzen, wo man auch sah: Die Armee und die Polizei kämpfen gar nicht groß. Die sind nicht motiviert sind, die wissen, dass sie letzten Endes Bauernopfer sind und sind sehr schnell übergelaufen.

Da habe ich meine Einschätzung schon revidiert auf Ende des Jahres und letzten Endes dann in den letzten Wochen gesehen, dass sogar Großstädte wie hier Kandros oder wie Masar e-Sharif, dann Kandahar und Herat fielen, die alle sehr starke einheimische Anführer mit eigenen Milizen dort hatten. Dass die sich alle nicht halten können, dass überall die Polizei und die Armee kapitulieren.

Klar, das ist gut vorbereitet, vermutlich auch mit viel Geld. Die Generäle oder Anführer oder Gouverneure sind vermutlich von langer Hand gekauft worden. So ähnlich wie wir das 2001 gemacht haben, wo innerhalb von vier Wochen ganz Afghanistan talibanfrei war. Die Taliban haben strategisch von uns gelernt und haben diesen Krieg ohne großes Blutvergießen vermutlich mit viel Geld sehr schnell durchgezogen. Auch damit war das in der Schnelligkeit nicht zu erwarten, dass Kabul mit fünf Millionen Menschen und einer Unmenge von Soldaten und Sicherheitskräften jetzt innerhalb von einer Woche zusammenbrechen würde. Dass die Regierung flüchtet, also das hab noch nicht mal in meinen finstersten Fantasien in so einer Geschwindigkeit erwartet. Und da muss ich halt auch bei aller Kritik unsere Regierung in Schutz nehmen oder auch andere Regierungen. Es war ein Tsunami-artiger Zusammenbruch innerhalb von zwei Wochen. Das hat keiner so vorausgesehen.

Welche Rolle spielen mittlerweile, wenn man sie so nennen will, inoffizielle Wege, um Personen außer Landes zu bringen, also beispielsweise über eigene Netzwerke und die grüne Grenze?

Also das wird einer der letzten Wege sein, wenn diese Luftbrücke beendet ist. Es war noch nie möglich, die grünen Grenzen Afghanistans zu überwachen, wenn man sich das Gelände anschaut, diese Gebirge. Am leichtesten zu kontrollieren ist vielleicht die Grenze zu diesen ehemaligen Sowjetrepubliken. Aber alle anderen Grenzen sind Wüste und Gebirge. Das hat noch nie jemand geschafft, zu kontrollieren.

Dort leben irgendwelche Stämme und Clans, die seit tausend Jahren von Handel und Schmuggel leben. Und wer genug Geld hat, wird auf dem Wege das Land verlassen können, wie es auch schon früher immer geschehen ist. Aber es hängt am Geld. Und wer unterwegs irgendwo nicht ihnen, sondern Taliban in die Hände füllt und verräterische Dokumente mit dabei hat, wird das nicht überleben. Und natürlich hat man immer das Risiko, auch irgendwelchen Räubern, ganz einfachen Kriminellen in die Hände zu fallen. Und wer sich das leisten kann.

Auch gibt's natürlich, sagen wir mal, Evakuierungs-Operationen von Söldnern, Organisationen, die dort irgendwo in der Wüste landen oder auf einem ehemaligen Flugplatz mit Kampfhubschraubern und Söldnern als Schutz an Bord, wo man halt rechtzeitig am richtigen Fleck sitzen muss. Es gibt da keine Luftabwehr, es gibt keine Luftwaffe der Taliban. Das wird also mit berechenbarem Risiko möglich sein. Aber das innere Auge sieht da extreme Kosten. Also es wird bestimmt Nationen oder Dienste geben, die dort noch Leute rausholen, die über dieses Geld verfügen. Aber kaum für Ortskräfte, die als Tellerwäscher und Koch aktiv waren.

Inwieweit kann man sich auf die zuletzt kolportierten Zusagen der Taliban verlassen, die Ausreise von Personen, die einen legalen Anspruch darauf haben, zuzulassen? Ja, sofern es sich um internationales Personal handelt, kann ich mir gut vorstellen, dass das passiert. Man lässt ja jetzt auch gerade Internationale durch diese Checkpoints durch. Die andere Aussage ist ja: Kein afghanischer Staatsbürger wird praktisch der Bestrafung für seine Kooperation entgehen. Und dann haben wir schon das Geraufe, wie berechtigt aus Sicht der Taliban der Anspruch eines deutschen Mitarbeiters ist, mit einem Visum das Land verlassen zu dürfen. Das ist eine Grauzone, die ich denke, wo man sich mit Geld und Verhandlungen einigen muss. In Bezug auf diese berechtigte Frage „Wieso Inhaber A.?“ ist es dann eine Entscheidung der Taliban. Wenn man die offiziellen Aussagen der letzten Wochen verfolgt, dass man ebendiese Leute bestrafen will, werden von ihnen aus nicht allzu viel an Menschen das Land verlassen dürfen. Im Gegenteil: Ein Afghane, den ich betreue, dessen Familie noch dort ist, der im Raum Kundus war, der auch schon lange erpresst und bedroht wurde, hat jetzt über seinen Bruder die Aufforderung erhalten, er müsse jetzt zurückkehren, damit er sich für seine Kooperation bestrafen lassen kann. Ansonsten werde man sich an seine Familie wenden. Da ist also der Wunsch, Rache auszuüben, der Wunsch, die Feinde von früher zu beseitigen, ganz offensichtlich vorhanden. Ob das alles von der Taliban-Führung kommt, das ist schwer zu sagen. Da entscheidet ein regionales Taliban-Kommando oder der Wachposten an der Straßenecke, der gar nicht weiß, was in Doha verhandelt wird… der irgendwo das Wort seines Kommandeurs im Ohr hat und an Ort und Stelle Leute auspeitschen oder erschießen lässt. Das ist noch ein langer Weg von Doha bis zu diesem Mann auf der Straßenecke. Es wird wirklich nicht gelogen sein, was die Taliban-Führung erzählt, aber ich bezweifle, dass sie die Kontrolle haben, das wirklich bis zum letzten Mann auch umzusetzen. Vielen Dank für das Gespräch!

TRT Deutsch