Stephan Theo Reichel von „matteo – Kirche und Asyl e. V.“ wirft der Bundesregierung vor, im Zusammenhang mit Abschiebungen Warnungen über die Sicherheit ignoriert zu haben. (dpa)
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Von Feride Tavus

Die Lage in Afghanistan ist seit der Machtübernahme der Taliban für viele Menschen bedrohlich geworden. In vielen Fällen müssen Gegner der neuen Machthaber Folter und Tod fürchten.

Integrationsbeauftragter Stephan Theo Reichel von „matteo – Kirche und Asyl e.V.“ sieht die deutsche Regierung in der Pflicht. Im Gespräch mit TRT Deutsch spricht Reichel von staatlichem Versagen bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aus Afghanistan. Sogar die Justiz habe nach politischen Vorgaben geurteilt.

Welche Möglichkeiten haben Afghanen in der aktuellen Situation, um aus dem Land zu flüchten?

Wir haben versucht, noch in der letzten Woche um die 30 bis 40 Personen rauszuholen mit sehr guten Kontakten übers Außenministerium. Nicht einer ist rausgekommen. Jetzt nach Ende der Evakuierungsflüge sehe ich nicht, wie man die Leute rauskriegen kann. Es gibt ein paar, die sich durchschlagen konnten nach Pakistan. Die haben sich auf die Flughafen- und Evakuierungsschiene nicht eingelassen und sind durchgekommen. Aber im Moment ist völlig unübersichtlich, wie man herauskommt.

Immer wieder ist die Rede von Ortskräften, die gerettet werden müssten. Wie sieht es mit dem Rest der Schutzsuchenden aus?

Vieles deutet darauf hin, dass man sich tatsächlich bei der Evakuierung beschränkt hat auf deutsche Staatsbürger erst mal – und dann eben einen Teil der Ortskräfte. Man hat bei weitem nicht alle evakuieren können, obwohl man sie kannte. Dieser Kreis war sehr eng gefasst auf die, die wohl direkt einen Dienstvertrag mit der deutschen Armee hatten und direkt an die Armee angeknüpft waren. Alle anderen hat man eigentlich ignoriert.

Wie viele Menschen sind aus Ihrer Sicht in Gefahr und müssten gerettet werden?

Je nachdem, wie weit man das fasst. Wir wissen nicht mehr, wie viele von den Abgeschobenen noch in Afghanistan sind, aber allein dieser Kreis dürfte 400 bis 500 Menschen betreffen. Dazu gehören oft auch die Familien, die durch diese Abgeschobenen im Fokus stehen. Die wurden ja abgeschoben unter der Prämisse, dass ihnen in Afghanistan nichts passieren kann, dass die Taliban nicht so gefährlich seien und es sichere Fluchtalternativen innerhalb Afghanistans gäbe. Die Taliban sehen diese Rückkehrer und Zurückgeschobenen aus dem Westen als verdorben an und auch als Verräter. Und die stehen als Erste im Fokus.

Waren und sind Abschiebungen nach Afghanistan vertretbar?

Genau in dem Moment, wo die Taliban wieder erstarkten, hat man mit den Abschiebungen wieder begonnen. Die waren ja über ein Jahrzehnt ausgesetzt worden wegen der Sicherheitslage. Das wusste man 2016 schon genau. Da hat man die Abschiebung wieder begonnen und betreibt sie seither immer weiter und hat gegen alle seriösen Lageberichte von der UNHCR, von Amnesty und internationalen Organisationen, gegen die eigenen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes – all diese Lageberichte hat man ignoriert – einen eigenen, durchwegs geschönten Lagebericht ausgegeben und diesen dann auch noch positiv interpretiert.

Integrationsbeauftragter Stephan Theo Reichel von „matteo – Kirche und Asyl e.V.“ im Gespräch mit TRT Deutsch (TRT)

Heiko Maas hat das ja auch getan. Sogar Anfang August hat er Abschiebungen noch für zulässig gehalten. Mit so einem geschönten Lagebericht, der auch auf einem alten Stand war und natürlich die Lage nicht nur beschönigt, sondern völlig falsch dargestellt hat, wie man jetzt ja auch sehen kann, im Rückblick aber auch wusste. Sie wussten es immer, die verantwortlichen Politiker. Dazu gehörte mit auch Herr Seehofer. Sie wussten immer, wie gefährlich die Lage in Afghanistan ist, dass die Taliban zurückkehren könnten und dass das passieren kann, was jetzt passiert ist. Es ist eine große Lüge, dass man es nicht gewusst hat. Man hat es bewusst ignoriert. Was fordern sie von der Politik? Wir fordern natürlich jetzt einen stabilen Abschiebestopp nach Afghanistan. Und dass die ganzen BAMF-Bescheide neu ausgestellt werden. Das BAMF hat ja auf Anordnung aus dem Innenministerium immer nur 40 Prozent der Afghanen anerkannt, in den letzten fünf Jahren haben 40 Prozent aus Afghanistan eine erste Anerkennung bekommen. Über die Hälfte der falschen Ablehnungsbescheide wurden von Verwaltungsgerichten dann aufgehoben. Allein schon ein Skandal, für den eigentlich der Präsident Sommer (Anm. d. Redaktion: Hans-Eckhard Sommer, Präsident der BAMF) gehen müsste. Aber viele Verwaltungsgerichte haben infolge politischer Vorgaben weiter Afghanen für Abschiebungsflüge zugelassen. All das muss sich ändern. Wir brauchen neue Asylverfahren für die Afghanen. Wir brauchen faire Asylverfahren. Wir brauchen dringend eine Reform des BAMF, das diese ganze Lage ja die ganze Zeit über falsch dargestellt hat - auch bewusst. Wir brauchen dort auch einen Führungswechsel im BAMF. All das brauchen wir. Wir brauchen einfach wieder eine faire Asylpolitik, die unser Land nicht überlastet, die aber auf der anderen Seite dem Populismus nicht mehr freie Bahn gibt. Mit welcher Begründung wurden Afghanen abgeschoben? Entweder wurde ihnen ihre Geschichte nicht richtig geglaubt oder sie wurde geglaubt, man hat aber gesagt: Die Taliban sind keine große Gefahr. Vor allem, wenn die Antragsteller eine Verfolgung durch die Taliban geltend machten. Die andere Begründung war immer eine sichere Fluchtalternative innerhalb von Afghanistan. Man könne in Kabul sicher leben, was immer falsch war. All diese Dinge. Das waren die Gründe, warum man Asyl abgelehnt hat, aber an den Haaren herbeigezogenen Gründen. Sind die Integrationshürden für Afghanen höher als für Flüchtlinge aus anderen Ländern? Also die Hürden sind sehr hoch. Es war ja so, dass die Afghanen schon von Anfang an nicht so sehr für die Integrationskurse zugelassen wurden, weil man gesagt hat, sie hätten keine gute Bleibeperspektive, sondern künstlich die Anerkennung auf 40 Prozent runtergeschraubt hat. Ist die Integration von Geflüchteten aus Afghanistan in Deutschland erfolgreich? Wir sehen es eben auch an den täglichen Berichten von Lehrern, Lehrerinnen, Berufsschulen, Unternehmensverbänden, die immer wieder sagen, diese Afghanen hier sind besonders gut geeignet, die haben besonders schnell Deutsch gelernt. Also aus all diesen Tausenden von Afghanen, die wir betreuen, ist kaum einer dabei, der nicht jetzt, nach vier, fünf Jahren gut Deutsch spricht und eben in einer Ausbildung ist oder eine Ausbildung kriegen könnte. Was muss sich bei den Behörden ändern? Wir brauchen dringend, das habe ich auch von Anfang an mit gefordert, einen Untersuchungsausschuss im neuen Bundestag, wo das alles aufgearbeitet wird. Aber nicht nur darüber, wer vor zwei Wochen die falschen Entscheidungen getroffen hat, sondern auch dazu, was den Afghanen seit fünf Jahren in Deutschland angetan wurde. Warum wurde abgeschoben gegen besseres Wissen? Warum gab es diese vielen falschen Bescheide? Warum haben Gerichte mit politischen Vorgaben so entschieden? Das muss alles auf den Tisch. Vielen Dank für das Gespräch!

TRT Deutsch