Deutsche Bundeswehrsoldaten in Afghanistan (Reuters)
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von Till C. Waldauer

Vor unangenehmen Fragen steht die Führung des Bundesnachrichtendienstes (BND) nach der unerwartet raschen Einnahme der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die radikalen Taliban-Milizen am vergangenen Wochenende. Schon kommende Woche will, wie der „Spiegel“ berichtet, BND-Präsident Bruno Kahl erste Ergebnisse einer internen Revision vorlegen.

BND hatte frühe Warnzeichen erkannt

Für Kahl stehen dabei nicht nur seine persönliche Reputation auf dem Spiel und eine mögliche unangenehme Befragung durch einen Untersuchungsausschuss, wie er aus den Reihen der Opposition bereits gefordert wird. Vielmehr galt der BND nicht nur bei Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern auch über die Grenzen hinweg lange Zeit als eine der bestinformierten Quellen zur Lage vor Ort – auch international wurde Analysen des deutschen Auslandsgeheimdienstes stets hohes Gewicht beigemessen.

Auch mit Blick auf Afghanistan lag der Dienst lange Zeit durchaus am Puls der Zeit. Schon Ende 2020 teilte man dem Kanzleramt mit, dass ein „Emirat 2.0“ als mögliches Zukunftsszenario nach einem Rückzug der Nato als durchaus realistisch erschiene. Im Januar 2021 informierte man über umfangreiche Absetzungstendenzen in den Reihen der offiziellen afghanischen Streitkräfte – und einen Ansturm an Überläufern zu den Taliban, der selbst in deren Reihen mit Verwunderung aufgenommen wurde. Im Juli berichtete man über ernüchternde Zahlen zur Kampfbereitschaft der Nationalarmee.

„Eher unwahrscheinliche“ Einnahme der Hauptstadt kam sehr schnell

Nun ist es jedoch ausgerechnet ein Protokoll aus dem Auswärtigen Amt selbst, das einen möglicherweise folgenschweren Imageschaden für den BND hervorrufen könnte. Demnach habe ein Vertreter des BND am vorvergangenen Freitag einen militärischen Vormarsch der Taliban auf Kabul als „eher unwahrscheinlich“ eingeschätzt – zwei Tage später waren die Milizen die bestimmende Kraft in der Hauptstadt.

Der BND war stattdessen davon ausgegangen, dass die Taliban-Führung in Doha mit einer über 30 bis 60 Tage währenden Einkesselungstaktik rechne, da man einen vermeintlich zu erwartenden blutigen Kampf um Kabul vermeiden wolle. Vollständig ausgeschlossen hatte der BND-Vertreter das Szenario jedoch nicht, heißt es im „Spiegel“ weiter.

Während die Amerikaner schon tags darauf die „Grüne Zone“ im Zentrum Kabuls verließen, die Botschaft räumten und sich zum Flughafen begaben, zeigten sich deutsche Akteure vor Ort von den Ereignissen überrollt. Zwar war innerhalb der Regierung durchaus schon mehrere Monate vor dem Siegeszug der Taliban auf höchster Ebene über einen Fall von Kabul und das Schicksal der Ortskräfte diskutiert worden.

Nicht durch zu frühe Schritte „Pferde scheu machen“

Eine zügige Evakuierung im Vorfeld kam jedoch nicht zustande – zum einen aufgrund von Visaproblemen, zum anderen, weil man nicht durch verfrühte Veranlassungen die Dynamik der Ereignisse noch weiter anfachen wollte. Auch vor einer solchen „Abwärtsspirale“ infolge eines noch schnelleren Abzugs internationaler Truppen oder gar afghanischer Regierungsmitglieder hatte der BND gewarnt.

In dieser Hinsicht hätte der Fraktionsvizechef der FDP, Stephan Thomae, dem BND sogar Unrecht getan. Er räumte ein, dass es „keiner auf dem Schirm gehabt“ habe, dass Kabul so schnell fallen würde. Dennoch warf er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur dem Dienst vor, sich „zu technokratisch“ nur um Waffen und Soldaten konzentriert, aber „psychologische, kulturelle, gruppendynamische Effekte“ in seiner Analyse vernachlässigt zu haben.

Eher dürfte, wertet man Sitzungsprotokolle der Regierung unter Beteiligung des BND in Betracht, die Dynamik zumindest von ihrem Potenzial her erkannt worden sein. Allerdings wurde man am Ende doch von dieser überrollt.

Bundeswehr handelte vorausschauend

Der Oberstleutnant der Reserve und Aktivposten im Patenschaftsnetzwerk für Ortskräfte aus Afghanistan Hans Jürgen Domani differenziert im Gespräch mit TRT Deutsch, was die Verantwortung offizieller Stellen für die Entwicklung anbelangt.

Es hätte durchaus ein ausreichend großes Zeitfenster gegeben, um zumindest eine zeitgerechte Evakuierung der Ortskräfte zu erreichen. Die Bundeswehr habe bereits vor mehr als einem halben Jahr für Ortskräfte und deren Familien insgesamt etwa 2400 Visa angefordert. Deren Bearbeitung habe jedoch offenbar keine Eile gehabt:

„Es hat […] so lang gedauert, die zu bearbeiten, dass im Prinzip die Bundeswehr schon abgeflogen ist, bevor die Visa ausgeteilt waren und die Bundeswehr zwei bestellte Flugzeuge mit 300 Passagieren wieder abbestellen musste, weil die Insassen ihre Visa nicht rechtzeitig hatten.“

Taliban haben Westen mit eigener Taktik überrumpelt

Auch die Grünen hätten im Juni im Bundestag das Thema der Ortskräfte und ihrer Visa aufgebracht – jedoch habe das Bundesinnenministerium sich bis vor zwei bis drei Wochen dagegen quergestellt. Nun sei davon auszugehen, dass etwa 6000 ehemalige Helfer der Bundeswehr und ihrer Familien gar keine Chance mehr haben könnten, ein Visum zu erhalten.

Dass das System dermaßen schnell und nahtlos zusammenbrechen würde, habe man allerdings erst mit dem Fall der größten Provinzhauptstädte in dieser Form erahnen können, meint der Oberstleutnant der Reserve. Theoretisch hätten die 300.000 Soldaten der afghanischen Armee mit ihrer Ausrüstung und finanziellen Ausstattung zumindest bis ins erste Quartal des nächsten Jahres Widerstand leisten können.

Allerdings wollte keiner das Bauernopfer spielen, schlussfolgert Domani, und die Taliban hatten ihre schnelle und weitgehend unblutige Machtübernahmen von langer Hand vorbereitet, indem sie ein westliches Erfolgsrezept von 2001 adaptiert hätten:

„Generäle oder Anführer oder Gouverneure sind vermutlich von langer Hand gekauft worden. So ähnlich wie wir das 2001 gemacht haben, wo innerhalb von vier Wochen ganz Afghanistan talibanfrei war. Die Taliban haben strategisch von uns gelernt und haben diesen Krieg ohne großes Blutvergießen vermutlich mit viel Geld sehr schnell durchgezogen.“

TRT Deutsch