Sind bosnische Jugendliche billige Arbeitskräfte für Deutschland?
Fremdsprachenkenntnisse bieten heutzutage viele Vorteile. Manchmal gefährden sie jedoch die Zukunft von Staaten. Das Wahlfach Deutsch wird an Schulen in Bosnien quasi als „Deutschlandticket“ dargeboten. Diese Situation verursacht einen Brain-Drain.
Flagge von Bosnien und Herzegowina (AA)

In Bosnien und Herzegowina wird seit Jahren eine Zweitsprache als Wahlfach an öffentlichen Schulen angeboten. Dazu zählen Sprachen wie Deutsch, Französisch, Türkisch und Arabisch. Von den angebotenen Sprachen ist dabei Deutsch diejenige, die an den Schulen über den längsten Zeitraum angeboten wird. Dementsprechend hat sie auch immer viel Interesse erweckt. Wobei zu den wichtigsten Beweggründen wohl der Punkt gehört, dass vor allem junge Menschen das Erlernen der deutschen Sprache als ihre Fahrkarte aus Bosnien betrachten.

Die wirtschaftliche Lage in Bosnien und Herzegowina ist nicht gerade vielversprechend. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, und die Löhne in den verfügbaren Arbeitsplätzen sind vergleichsweise niedrig. Aber die Unzufriedenheit der Menschen speist sich nicht nur aus Arbeitsplätzen und Gehältern. Vielmehr rauben politische Krisen und die grassierende Bürokratie mit der Verkomplizierung von Abläufen im Land den Menschen ihre Zuversicht für die Zukunft. Viele träumen daher vom Auslandsaufenthalt, und Deutschland ist eines der meistpräferierten Länder.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für das vergangene Jahr sind in den letzten sieben Jahren 53.880 Bürger aus Bosnien und Herzegowina nach Deutschland eingewandert, und im Vergleich zu 2019 lebten im Jahr 2020 8000 bosnische Staatsbürger mehr in Deutschland. Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Bürger aus Bosnien und Herzegowina beträgt 211.335, davon mehr als 111.000 Männer. Mehr als 6000 sind Babys, ebenso viele sind Kinder zwischen fünf und zehn Jahren und fast 13.000 sind Jugendliche. Darüber hinaus sind 32.000 Menschen in den Zwanzigern, 43.885 in den Dreißigern, 49.890 in den Vierzigern und mehr als 28.000 in den Fünfzigern. Etwa 28.000 gehören zur Kategorie der Senioren. Es stellt sich also die Frage, aus welchen Gründen diese Menschen hauptsächlich nach Deutschland gehen.

Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass diese Migration wohl auch für Deutschland von Vorteil ist, denn es gibt zahlreiche Beratungsunternehmen in Bosnien und Herzegowina, die Bosniern bei der Jobsuche in Deutschland ihre Dienste anbieten. Zurück zur Antwort auf die obige Frage: Die Menschen gehen hauptsächlich als Krankenschwestern, Pflegekräfte und Kurierfahrer nach Deutschland. In diesen Berufszweigen ist die Nachfrage in Deutschland besonders hoch, so dass es in diesen Bereichen relativ leicht ist, eine Anstellung zu finden. Aus diesem Grund bemühen sich Bürgerinnen und Bürger von Bosnien und Herzegowina intensiv um das Erlernen der deutschen Sprache. Folgerichtig ist die am meisten nachgefragte Sprache hiesiger Sprachkurse Deutsch, weshalb sie letztlich auch an Schulen so beliebt ist. Tatsächlich lernen Menschen nicht nur die Sprache. Um Senioren in einem Altenheim in Deutschland zu pflegen zu können, gehen sie quasi wieder zur „Schule“ und absolvieren eine anerkannte Ausbildung im Gesundheitsbereich.

Legt man einen realistischen Vergleich zugrunde, der alle Aspekte umfasst, wird deutlich, dass Bürgerinnen und Bürger, die Bosnien und Herzegowina verlassen, mit ihren (neuen) Jobs nicht viel mehr Geld verdienen als in Bosnien. Darüber hinaus können Intensität und Schwere der Pflege und Pflegearbeit eine weitere Belastung darstellen. Aber aufgrund der Stabilität der Länder nimmt man sogar schwerere körperliche Arbeiten in Kauf. Dies zeigt sich insbesondere bei jungen Bürgern von Bosnien und Herzegowina. Von vielen lokalen Arbeitgebern sind folgende Beschwerden wiederholt zu hören: „Junge Menschen, die in Bosnien nicht gerne arbeiten und ihr Handys am Arbeitsplatz nicht aus der Hand legen, gehen lieber nach Deutschland, wo sie das Telefon während der Arbeitszeit nicht nutzen dürfen und sogar bei alten Leuten Windeln wechseln müssen.“

Um das eingangs erwähnte Interesse an der deutschen Sprache als Wahlfach an öffentlichen Schulen zu erklären, macht es Sinn, auf die in den Vorjahren vom „Deutschen Sprachlehrerverband“ gewählte Maßnahme hinzuweisen. Dabei wurde ein Brief an die Eltern und Schüler in den Schulen mit folgendem Inhalt verfasst:

„Einige Staaten, zum Beispiel Österreich, bieten Schülern in unserem Land (Bosnien und Herzegowina) die Möglichkeit, zu studieren und eine Beschäftigung zu finden. Voraussetzung dafür sind Deutschkenntnisse. Der wichtigste Grund, in unserem Land Deutsch zu lernen, ist zweifellos, dass Deutschland in den letzten Jahren zehntausend Arbeitsmöglichkeiten für junge Menschen aus Bosnien und Herzegowina eröffnet hat und dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Wir sehen dies in Statistiken, die bestätigen, dass es viele junge Menschen gibt, die in westlichen Ländern ihr Glück finden. Ob medizinisches Personal, Ingenieure, Kraftfahrer und viele andere Berufe – Deutschland bietet jungen Menschen aus Bosnien und Herzegowina vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten.“

Da eines der größten Probleme von Bosnien und Herzegowina die intensive Migration seiner jungen Menschen in andere europäische Länder ist, sollten alle befreundeten Länder, denen das Wohlergehen von Bosnien und Herzegowina am Herzen liegt, lieber daran mitwirken, diese jungen Menschen in Bosnien zu halten. Aber wie im obigen Beispiel zu sehen, wird Kindern und Jugendlichen in Bosnien und Herzegowina mit der Einführung der deutschen Sprache die Botschaft: „In Deutschland erwartet dich eine bessere Zukunft, verlasse dein Land, komm nach Deutschland“ vermittelt, und man ermutigt sie, ihr eigenes Land, also ihre Heimat zu verlassen. Für eine bessere Zukunft unseres Landes sollte jedoch genau das Gegenteil getan werden. Deutschland mag Schwierigkeiten haben, unter seinen Bürgern Arbeitskräfte für einige Berufe zu finden, und sieht möglicherweise das Potenzial für billigere und jüngere Arbeitskräfte in Bosnien und Herzegowina, aber es betont auch wieder und wieder, dass man gegenüber Bosnien und Herzegowina freundschaftlich eingestellt sei. Die bosnische Jugend zu ermutigen, ihr Heimatland zu verlassen, ist jedoch kein freundschaftlicher Ansatz. Es wäre für Bosnien und Herzegowina vorteilhafter, unsere jungen Menschen dabei zu unterstützen, wie sie in ihrer Heimat nützlicher sein können, anstatt unsere Jugend mit der Perspektive auf ein schönes Leben nach Deutschland zu locken. Entsprechend ist es wichtiger, an der Verbesserung der Bedingungen für den Verbleib junger Menschen in Bosnien zu arbeiten.

Beispielsweise verlangt die Türkei von jungen Menschen aus Bosnien und Herzegowina, die ein Stipendium vom Amt für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften (YTB) erhalten, dass sie nach der Beendigung ihrer Ausbildung oder ihres Studiums in der Türkei wieder in ihre Heimat zurückkehren. So profitieren unsere jungen Menschen von den Bildungsangeboten und erwerben Fachwissen, aber sie werden motiviert, das erworbene Wissen und die gesammelten Erfahrungen in ihrer Heimat anzuwenden. Ebenso gibt es viele junge Menschen aus Bosnien und Herzegowina, die in Deutschland ausgebildet werden. Es wäre für dieses Land vorteilhafter, die dort studierenden jungen Menschen zur Rückkehr nach Bosnien zu ermutigen, anstatt dafür zu werben, Deutsch zu lernen, um Bosnien zu verlassen und sich in Deutschland niederzulassen.

Denn das Land ist seiner Jugend anvertraut.

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