Kopftuchdebatte: Religionsfreiheit oder wirtschaftliche Unabhängigkeit?
In der europaweiten Kopftuchdebatte spricht man über muslimische Frauen und nicht mit ihnen. Mit Kopftuch- und Schleierverboten werden sie in die Ecke gedrängt. Sie sollen sich entscheiden: Religionsfreiheit oder Teilhabe am Berufsleben?
ORF-Grafik von Putzfrau mit Kopftuch sorgt für Empörung (Twitter: Mustafa Durmus)

In der EU gilt mittlerweile in über 20 Ländern ein Kopftuch- oder Gesichtsschleierverbot. Zuletzt wurde in Österreich das Kopftuch für Schulkinder unter 14 Jahren verboten. In Deutschland verfasste ein Professor der Universität Würzburg im vergangenen März im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (BAGIV) ein Rechtsgutachten, wonach auch in Deutschland ein ähnliches Verbot verfassungsgemäß sei. Es hieß, bei solchen Entscheidungen ginge es in erster Linie um das Kindeswohl, denn das Kopftuchtragen entferne die Kinder von der Realität und könne möglicherweise auch zu Persönlichkeitsstörungen führen.

Die westeuropäischen Länder erholen sich derzeit allmählich von einer der schlimmsten Gesundheitskrisen seit einem Jahrhundert. Die aus der Corona-Krise resultierenden ökonomischen Folgen bereiten vielen Europäern Kopfschmerzen. Lockerungen haben stattgefunden.

Mit dem eintretenden Normalisierungsprozess hat Belgien das Thema Kopftuch erneut auf die Tagesagenda gesetzt und damit für internationale Aufmerksamkeit gesorgt. Die diskriminierenden Maßnahmen gegenüber religiösen Minderheiten in Bildungseinrichtungen löste Empörung aus. Waren es in Europa bislang oftmals Minderjährige, die durch ein Kopftuchverbot „geschützt“ werden sollten, handelt es sich im Falle von Belgien um mündige Erwachsene, die ihr Grundrecht auf Bildung wahrnehmen wollen. Vor ungefähr einem Monat hat das belgische Verfassungsgericht entschieden, dass es einer Hochschule erlaubt sei, Studentinnen das Kopftuchtragen zu verbieten.

Im postmigrantischen Europa ist die Definition der gesellschaftlichen Rolle der muslimischen Frau im Zusammenhang mit den Verbotsdebatten von Ironie gekennzeichnet. Immer wieder wird dabei das Thema Integration entfacht, denn das „jüdisch-christliche Abendland“ betrachtet die sichtbare Muslimin noch heute als einen räumlichen Fremdkörper. Dieser Zustand ist problematisch, weil europäische Grundordnungen Individualismus und die Pluralität von Identitäten begrüßen, wie beispielsweise im Umgang mit sexuellen Minderheiten erkennbar. Das muslimische Kopftuch wird dagegen zum Integrationshindernis stigmatisiert und das Kopftuchtragen als Ausdruck einer Integrationsunwilligkeit bewertet. Immer dann, wenn muslimische Identitäten nur im Rahmen der Integrationsdebatte thematisiert werden, werden dabei alle möglichen Muslime über einen Kamm geschoren – egal wie sehr sie sich voneinander unterscheiden. Außer Acht gelassen werden in dieser Tendenz diejenigen, die sich in der zweiten oder dritten Generation als Bürger des jeweiligen Landes verstehen oder zu den „Einheimischen“ gehören, wie etwa autochthone Muslime im Balkan, Tataren und Konvertiten.

Mit dem Integrationsargument wird ständig darauf hingewiesen, muslimische Frauen seien aufgrund ihrer religiösen Orientierung bildungsbenachteiligt. Die Unterstellung, die Religion würde die Frau unterdrücken und sie ohne jegliche Autonomie und Entscheidungsvermögen auftreten lassen, degradiert sie zu einem unfrei handelnden Subjekt. Das Klischee fungiert als Sündenbock der ganzen Debatte – der Muslimin wird die Verkörperung der negativen Symbolik angelastet.

Studien haben abermals gezeigt, dass Musliminnen unter der sogenannten „Kopftuchstrafe“ leiden: Sie haben geringere Chancen auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch, insbesondere wenn sie ein Bewerbungsschreiben samt Foto eingereicht haben. Gleichzeitig wird auf der strukturellen Ebene das Kopftuch einer Lehrerin, einer Richterin, einer Polizistin oder einer Universitätsstudentin als Problemgegenstand dargestellt. Allen Verbotsdebatten liegt die Fremdmachung der muslimischen Subjekte und die Disziplinierung ihrer religiösen Bekenntnisse zugrunde.

Das für das Kopftuchverbot verwendete Argument wird stets in einen Diskurs eingebettet, der sich um die Frage nach Säkularisierung, Neutralität, Demokratie, Aufklärung und Frauenrechte dreht. In dieser dichotomen Struktur werden Kopftuch, der Islam, oder gar die Muslime als ein kollektiver Körper zum Gegensatz der „westlichen Werte“ deklariert. Fatal ist, dass hierbei die muslimische Frau selbst in dem Narrativ als Subjekt nicht vorkommt – sie wird aus dem Diskurs rausgelassen. Man redet über sie, aber nicht mit ihr. Gesetze zugunsten ihres „Wohlergehens“ werden verabschiedet, ohne dass sie gefragt wird.

Der neu erschienene Bericht von European Forum of Muslim Women (Europäisches Forum muslimischer Frauen) hat Stimmen von Kopftuchträgerinnen aus Belgien gesammelt. Es handelt sich um Frauen, die sich an der Gesellschaft sowohl beruflich als auch ehrenamtlich aktiv beteiligen. Sie berichten von persönlichen Erfahrungen, wie sie sich in ihrer Bildungsphase unterdrückt gefühlt haben. So zum Beispiel dann, wenn auch ohne gesetzliche Grundlage einzelne Professoren ihnen die Präsenz im Unterricht mit Kopftuch verboten haben.

Im Berufsleben werden Kopftuchträgerinnen oft nicht als Sachkundige anerkannt, ohne dass ihre Identität zu kurz kommt. Sie werden in die Rolle einer Stellvertreterin aller Muslime gedrängt und sollen sich immer wieder nur zu Themen, die mit dem Islam zu tun haben, äußern und als Ansprechpartner profilieren.

Die Emanzipation der Frau wird als ein Erbe des 20. Jahrhunderts hochgejubelt. Im 21. Jahrhundert wird diese Emanzipation nur bestimmten Frauen zugesprochen. So zeigt eine Studie von Österreichischem Integrationsfond, dass muslimische Frauen im Vergleich eine viel höhere Arbeitslosenquote haben, schlechter bezahlt sind. Experten, die die Teilnahme und Teilhabe der muslimischen Frau an der Gesellschaft als ungenügend kritisieren, treiben dieselben Frauen, vor allem wenn sie sich selbstbewusst für das Kopftuchtragen entschieden haben, in eine Einbahnstraße. Die professionelle Selbstverwirklichung und die soziale Mobilität von Frauen mit Kopftuch wird stark beschränkt.

Offensichtlich stehen muslimische Frauen - besonders in Europa - unter ständigem Druck, ihre Religionsfreiheit, wirtschaftliche Unabhängigkeit und finanzielle Stabilität in Einklang zu bringen. Mit Verboten wie das in Belgien werden sie schon früh vor einen Scheideweg gestellt. Ihre Wünsche und ihre Motivation für die berufliche Karriere leiden unter diesem Entscheidungszwang.

Sie müssen gesellschaftliche Niederlagen hinnehmen, nicht aufgrund fehlender Sprachkenntnisse oder fehlender Bildung, an der Begabung mangelt in der Regel auch nicht. Es ist die Ablehnung gegenüber ihrer sichtbaren Präsenz in bestimmten Schichten der Gesellschaft. Unter Druck gesetzt greifen einige Frauen widerwillig auf das Ablegen ihres Kopftuchs zurück, was für sie eine schwierige persönliche Entscheidung darstellen kann. Erniedrigungsgefühle, Verletzung ihrer Würde und die gewaltsame Negation ihrer Integrität können resultieren. Letztendlich bedeutet der fehlende Zugang zum Arbeitsmarkt eine Behinderung ihrer sinnvollen Teilhabe an der Gesellschaft – und schadet allen.

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