Amnesty: „EU muss Asylrecht und Grundrechte von Flüchtlingen respektieren“
Tausende von Flüchtlingen verweilen derzeit jenseits der Grenzen zu Belarus in der Kälte, Pushbacks sind an der Tagesordnung. Die EU-Politik verletze das Recht der Migranten auf Asyl, kritisiert Jennifer Foster von Amnesty International.
Amnesty: „EU muss Asylrecht und Grundrechte von Flüchtlingen respektieren“ (DPA)

von Feride Tavus

Seit dem Höhepunkt der Migrationskrise im Jahr 2015 hat die EU strengere Maßnahmen zum Schutz der Außengrenzen getroffen. Das Ergebnis: Die Zahl der irregulär in die EU gelangten Migranten verringerte sich um mehr als 90 Prozent. Doch welche Folgen hat das für die Flüchtlinge? Wie steht es um die Glaubwürdigkeit der EU und deren Umgang mit der Menschenwürde angesichts der jüngsten Bilder an den EU-Grenzen?

Migrationsexpertin Jennifer Foster von Amnesty International fordert im TRT-Deutsch-Gespräch von den EU-Staaten, dringend Maßnahmen zu ergreifen. Das Asylrecht müsse von allen Staaten respektiert werden.

Im Moment blickt Europa sorgenvoll auf die Lage in Belarus. Wie ist die aktuelle Situation an den EU-Grenzen?

Die Situation für Migranten an den EU-Außengrenzen ist je nach Staat und Art des Grenzübertritts sehr unterschiedlich. Für Menschen, die auf der Suche nach Schutz irregulär die Grenze überqueren wollen, haben wir Verstöße gegen die Menschenrechte und Pushbacks auf der Balkanroute und in Mitteleuropa dokumentiert.

Wir sollten nicht vergessen, dass die von der EU, Italien und Malta angebotene Zusammenarbeit mit Libyen ebenfalls dazu führt, dass Tausende von Flüchtlingen und Migranten in missbräuchliche Situationen gedrängt werden.

Amnesty: „EU muss Asylrecht und Grundrechte von Flüchtlingen respektieren“ (Reuters)

Ist die jüngste Verordnung der polnischen Regierung mit der Flüchtlingskonvention vereinbar?

Jedes Gesetz, das darauf abzielt, Asylbewerber zurückzuweisen, ohne eine Bewertung ihrer individuellen Umstände und der Risiken, denen sie ausgesetzt sind, vorzunehmen, verstößt gegen internationales Recht und im Falle Polens gegen EU-Recht.

Berichten zufolge ist das gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtlingen wie in Polen oder Griechenland bereits zu einer faktischen Grenzpolitik geworden. Wie gerechtfertigt ist dieses Vorgehen?

Im Falle Griechenlands haben wir aufgrund des Ausmaßes und des systematischen Charakters von Pushbacks und der damit einhergehenden Straffreiheit für diese Handlungen festgestellt, dass illegale Pushbacks de facto Teil der Grenzpolitik des Landes sind, was die Schwere dieses Verstoßes noch erhöht. Auch wenn wir im Fall von Pushbacks in Polen nicht dieselben Merkmale festgestellt haben, sind solche in diesem Land doch dokumentiert worden, und sie sind in jedem Fall illegal, grausam und ungerecht; anders kann man es wirklich nicht sagen.

Jennifer Foster, Asyl- und Flüchtlingsexpertin von  Amnesty International (Amnesty International)

Pushbacks sind mit zahlreichen Verstößen verbunden, darunter Folter und anderen Misshandlungen, mit willkürlicher Inhaftierung und Todesgefahr. Polen hat auch versucht, Pushbacks zu „legalisieren“. Vor der Verabschiedung der neuen Rechtsvorschriften legte ein polnischer Ministerialerlass vom August 2021 fest, dass Personen, die im Grenzgebiet aufgegriffen werden, Polen verlassen und „an die Staatsgrenze zurückgeschickt“ werden müssen, mit Ausnahme von Personen, die unter bestimmte Kategorien fallen.

Seit dem 2. September befindet sich die polnische Grenze außerdem im Ausnahmezustand und ist daher für Journalisten, Abgeordnete und Aktivisten tabu. Außerdem hält das Land Flüchtlinge und Migranten unter entsetzlichen Bedingungen an seinen Grenzen fest, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Land aufgefordert hat, ihnen Hilfe zu leisten. Wir hoffen weiterhin, dass die EU diese Vorgänge ordnungsgemäß untersucht und die griechischen Behörden und andere Länder, die für diese Praktiken verantwortlich sind, zur Rechenschaft zieht.

Wie steht es um die Glaubwürdigkeit Europas im Hinblick auf die Menschenrechte?

Jede Verletzung von Rechten durch einen EU-Staat sollte für ALLE EU-Mitgliedstaaten und -Institutionen von Belang sein, und es liegt in ihrer Verantwortung, diese zu untersuchen. Daher sollte die von griechischen oder anderen europäischen Behörden ausgeübte Gewalt rasch verurteilt und untersucht werden, und die Täter sollten zur Verantwortung gezogen werden.

Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex selbst soll aktiv an Pushbacks beteiligt gewesen sein. Was muss getan werden, um sicherzustellen, dass die Regierungen ihrer gemeinsamen Verantwortung für den Schutz der Rechte von Flüchtlingen gerecht werden?

Uns liegen keine Beweise für eine direkte Beteiligung von Frontex an Pushbacks vor. Angesichts der Häufigkeit und des Ortes gewaltsamer Pushbacks an den See- und Landgrenzen halten wir es jedoch nicht für plausibel, dass Frontex von diesen illegalen Handlungen keine Kenntnis hat.

Amnesty: „EU muss Asylrecht und Grundrechte von Flüchtlingen respektieren“ (DPA)

Frontex ist in allen Gebieten tätig, in denen wir Pushbacks in Griechenland untersucht haben, und es ist ihre Pflicht, sicherzustellen, dass sie nicht durch Zusammenarbeit mit den Behörden oder auf andere Weise zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Wir haben Frontex ausdrücklich dazu aufgefordert, die menschenrechtlichen Auswirkungen ihrer Aktivitäten an der griechischen Land- und Seegrenze zu bewerten und Artikel 46 der Verordnung (EU) 2019/1896 anzuwenden, um ihren Einsatz in Griechenland auszusetzen oder zurückzuziehen.

Ist die EU-Migrationspolitik gescheitert, wenn Migranten nicht einmal die Chance haben, Asyl zu beantragen?

Wenn Staaten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen und die Rechte von Schutzsuchenden verletzen, können sie Leben zerstören und Menschen irreparablen Schaden zufügen. Menschen, die internationalen Schutzes bedürfen, müssen häufig irregulär die Grenzen überqueren, um diesen zu finden. Die Konvention erkennt diese Notwendigkeit an und erklärt, dass Menschen dafür nicht bestraft werden sollten (obwohl es auch wichtige Verpflichtungen für Einzelpersonen gibt, die dies tun). Die EU-Grenzstaaten müssen sicherstellen, dass die Menschen Zugang zu Asylverfahren und einem ordnungsgemäßen Verfahren haben, um ihren Verpflichtungen gegenüber dem Einzelnen nachzukommen.

Amnesty: „EU muss Asylrecht und Grundrechte von Flüchtlingen respektieren“ (Reuters)

Kauft sich die EU mit den Milliarden aus ihren Verpflichtungen frei?

Die EU-Staaten haben weder die Rechte von Flüchtlingen und Migranten respektiert, noch haben sie den Schutzsuchenden eine sichere Überfahrt nach Europa ermöglicht. Diese Politik hat dazu geführt, dass Tausende von Menschen unter unhygienischen und überfüllten Bedingungen auf griechischen Inseln leben.

Was fordern Sie in dieser Situation von der EU, damit Menschen aus Krisenregionen in Sicherheit und Würde leben können?

Die Empfehlungen, die wir für die EU haben, haben wir in unserem Bericht detailliert aufgeführt. So geht es um das dringende Ergreifen von Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Griechenland an seinen Grenzen und im ganzen Land Bedingungen wiederherstellt, die das europäische Asylrecht und die Grundrechte respektieren.

In Anbetracht der überwältigenden, übereinstimmenden Beweise, die auf das Fortbestehen von Pushbacks hinweisen, sollte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten, weil das Land gegen das EU-Asylrecht und die Grundrechte verstößt.

Die EU sollte auch sicherstellen, dass Griechenland einen unabhängigen Grenzüberwachungsmechanismus (Independent Border Monitoring Mechanism - IBMM) einrichtet, indem die bestehenden Mechanismen mit einem angemessenen Mandat, Mitteln und Unabhängigkeit ausgestattet werden.

Der Grundsatz der Solidarität nach EU- und Völkerrecht sollte durch eine wirksame und sinnvolle Umsiedlung von Asylbewerbern aus Griechenland und die Neuansiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei gewahrt werden.


Vielen Dank für das Gespräch!

TRT Deutsch