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Oradour-sur-Glane, Lidice, Chatyn, Srebrenica … Diese schwarze Liste enthält auch einen Ort in Aserbaidschan: Chodschali.

Es war ein strenger Winter in Bergkarabach im Jahr 1992, als armenische Streitkräfte eine Offensive in Richtung Chodschali starteten, eine kleine, aber strategisch wichtige aserbaidschanische Stadt mit dem einzigen Flughafen der Region und rund 6.200 Einwohnern. Chodschali wurde – in den Worten von Human Rights Watch – Opfer „unverantwortlicher Gewaltakte gegen Zivilisten“, als seine Einwohner versuchten, eskortiert von einer ehemals sowjetischen motorisierten Einheit, den vorrückenden armenischen Streitkräften zu entkommen.

Der Fluchtversuch der Bewohner Chodschalis endete jedoch in einem Massaker, als am 26. Februar 1992 mindestens 613 Zivilisten, darunter 106 Frauen und 63 Kinder, auf brutalste Weise ermordet wurden. Viele derer, denen es gelang, in eine nahe gelegene Stadt zu entkommen, waren schwer verletzt oder hatten in der schneereichen Februarnacht Erfrierungen an den Gliedmaßen erlitten.

Einige Aserbaidschaner, darunter ein bekannter Reporter, der vor Ort war, um die Leichen in der Nähe der Stadt einzusammeln, waren schockiert, als sie auf dem Feld verstümmelte Leichen entdeckten. Die zitternde Stimme des weinenden Kameramanns Tschingis Mustafajew, eines erfahrenen Journalisten, der die schreckliche Szene aufnahm, klang jedem aserbaidschanischen Bürger in den Ohren und ist immer noch mit Chodschali verbunden.

Ein Hubschrauberpilot, der an der Suchaktion teilnahm, erzählte später: "Mir fielen helle Flecken auf dem Boden auf. Ich ging hinunter, und da rief mein Flugmechaniker: ‚Schau, da liegen Frauen und Kinder! Ich selbst hatte bereits ungefähr zweihundert Tote gesehen, die am Hang verstreut lagen. Dann flogen wir dorthin, um die Leichen abzuholen. Ein örtlicher Polizist begleitete uns. Als er dort seinen vierjährigen Sohn mit zerschmettertem Schädel entdeckte, verlor er den Verstand. Überall sah ich die verstümmelten Körper von Frauen, Kindern und alten Menschen."

Mehrere ausländische Reporter, die für amerikanische, britische und russische Medien tätig waren, reisten ebenfalls in die Region, um das beispiellose Massaker und die Leichenberge zu dokumentieren. Ihre Erzählungen, ganz zu schweigen von ihren Fotos, können selbst hartgesottene Menschen aus der Fassung bringen.

Trotz ungeschickter Versuche der armenischen Seite, sich die Hände reinzuwaschen und der aserbaidschanischen Führung die Schuld am Tod hunderter Zivilisten in die Schuhe zu schieben, übernahmen mehrere hochrangige armenische Beamte die Verantwortung. Der ehemalige armenische Präsident Sersch Sargsjan (2008-2018), der während des Karabach-Krieges einer der Kommandeure armenischer Truppen war, gab später zu: "Vor den Ereignissen in Chodschali dachten die Aserbaidschaner, sie könnten mit uns spielen, sie dachten, dass die Armenier ihre Hand niemals gegen Zivilisten erheben würden. Wir waren in der Lage, das Gegenteil zu beweisen. Und genau das ist passiert."

Der armenische Präsidentenberater von 1991 bis 1994, Gerard J. Libaridian, bestätigte ebenfalls, dass armenische Truppen in Chodschali Gräueltaten begangen hatten: "Es gab Kämpfe, Unbeteiligte wurden getötet. Ich schließe die Möglichkeit nicht aus, dass Armenier Gräueltaten verübt haben. Tatsache ist, dass die Bevölkerung dort in den letzten zwei Jahren brutalisiert, entmenschlicht worden ist. Das hat Folgen, und die Menschen tun Dinge, die sie normalerweise nicht tun würden."

Die Chodschali-Ereignisse von 1992 waren das größte Massaker im Verlauf des Bergkarabach-Konflikts und lösten eine Serie ethnischer Säuberungen Bergkarabachs von Aserbaidschanern aus. Das Ereignis bleibt für die aserbaidschanische Gesellschaft ein großes Trauma, das nach fast drei Jahrzehnten immer noch frisch und eindringlich ist.

Der zweite Karabachkrieg von 2020 brachte Aserbaidschan einen lang ersehnten Sieg ein, der – wenn auch nur teilweise – historische Gerechtigkeit wiederherstellte und die territoriale Integrität des Landes sichert. Trotz dieser Ergebnisse des jüngsten Konflikts bleibt das Massaker in Chodschali unaufgearbeitet. Vielleicht kann die aserbaidschanische Gesellschaft ein Gefühl von Gerechtigkeit hinsichtlich dieser Tragödie entwickeln, wenn eine Art Nürnberger Prozess oder Haager Tribunal für Chodschali organisiert wird, um die Täter zu identifizieren und zu bestrafen. Internationale Gemeinschaft und Organisationen sollten endlich den Mut dazu aufbringen, das Massaker von Chodschali nicht im Namen Aserbaidschans, sondern im Namen der Gerechtigkeit anzugehen, um solche Tragödien in Zukunft zu verhindern.

Ein solcher Aufruf ist nicht dazu gedacht, neuen Hass anzustacheln oder Rache zu fordern. Ziel eines Prozesses zu Chodschali wäre es vielmehr, die Schrecken des Krieges und das Ausmaß der Tragödie zu zeigen, um neuen Chodschalis vorzubeugen.

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