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Das Drama der deutschen Autoindustrie
Gewinne brechen ein, Arbeitsplätze gehen verloren, der Vorsprung gegenüber China schmilzt: Die Krise der deutschen Autoindustrie ist kein Zufall, sondern das Ergebnis politischer und struktureller Versäumnisse.
Das Drama der deutschen Autoindustrie
Archivbild - 22.10.2021, Bayern, München: Roboter von ABB arbeiten an der Karosserie von verschiedenen Automodellen. / Foto: DPA / DPA
vor 12 Stunden

Über Jahrzehnte hinweg war die deutsche Automobilindustrie nicht nur das industrielle Aushängeschild Deutschlands, sondern ein zentraler Pfeiler der europäischen Wirtschaft. Marken wie Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz machten das Label „Made in Germany“ zu einem weltweiten Qualitätsversprechen. Doch dieses Bild gerät zunehmend ins Wanken. Die aktuellen Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass es sich dabei nicht um eine kurzfristige Schwankung handelt, sondern um einen tiefgreifenden strukturellen Bruch.

Die aktuellen Zahlen zeichnen ein alarmierendes Bild. Im dritten Quartal standen die großen deutschen Autobauer unter so starkem Druck wie zuletzt während der Finanzkrise. Zwar blieben Absatz und Umsatz insgesamt relativ stabil, doch der operative Gewinn (Ebit) brach um fast 76 Prozent ein. Mit insgesamt rund 1,7 Milliarden Euro erreichte er den niedrigsten Stand seit 2009. Kein anderes großes Autoland schnitt bei Umsatz- und Gewinnentwicklung so schwach ab wie Deutschland.

Zwar steckt die gesamte globale Autoindustrie in einer Profitabilitätskrise, doch der deutsche Sonderweg nach unten ist unübersehbar. Während die 19 größten Autokonzerne weltweit ihren Umsatz im dritten Quartal leicht steigern konnten, sank der operative Gewinn branchenweit um 37 Prozent. Die durchschnittliche Marge fiel auf 3,9 Prozent, den niedrigsten Wert seit über zehn Jahren. Seit 2023 hat sich dieser Wert mehr als halbiert.

Der verlorene Vorsprung im China-Geschäft

Besonders schmerzhaft ist der Einbruch auf dem chinesischen Markt, dem weltweit wichtigsten Automobilmarkt. Die Verkäufe deutscher Hersteller gingen dort im dritten Quartal um neun Prozent zurück. Der China-Anteil am weltweiten Absatz sank auf 29 Prozent, nachdem er 2020 noch bei 39 Prozent lag. Das ist mehr als ein konjunktureller Rückschlag – es ist ein strategischer Verlust.

China hat den Wettbewerb neu definiert. Elektromobilität, Softwareintegration und Batterietechnologie sind dort längst keine Zukunftsthemen mehr, sondern Marktstandard. Chinesische Konsumentinnen und Konsumenten bevorzugen zunehmend heimische Marken, die schneller, günstiger und technologisch konkurrenzfähig sind. Trotz hoher Investitionen gelingt es deutschen Herstellern bislang nicht, diesen Rückstand aufzuholen. Der frühere Vorsprung ist aufgebraucht.

Die sozialen Folgen dieser Entwicklung sind bereits sichtbar. Innerhalb eines Jahres gingen in der deutschen Automobilbranche 48.700 Arbeitsplätze verloren, ein Rückgang von 6,3 Prozent – so stark wie in keiner anderen großen Industriebranche. Mit 721.400 Beschäftigten erreicht die Branche den niedrigsten Stand seit 2011. Besonders betroffen sind Zulieferer, auf die der Kostendruck der Hersteller weitergereicht wird.

Insgesamt verlor die deutsche Industrie im selben Zeitraum über 120.000 Arbeitsplätze. Zwar ist der Beschäftigungsabbau gemessen am Produktionsrückgang noch moderat, doch die Richtung ist eindeutig. Die Krise ist real – und sie ist strukturell.

Geopolitik als wirtschaftlicher Risikofaktor

Doch die Krise der deutschen Autoindustrie ist nicht allein das Ergebnis von Marktversagen oder technologischer Trägheit. Sie ist auch politisch bedingt. Die strategischen Prioritäten der USA haben sich deutlich verschoben. Innovation, Klimapolitik und industrielle Transformation stehen nicht mehr im Zentrum. Stattdessen dominieren Sicherheits-, Militär- und Verteidigungsausgaben die politische Agenda.

Für Deutschland und die EU bedeutet das eine doppelte Belastung. Einerseits steigen die eigenen Verteidigungsausgaben massiv, andererseits verlieren industriepolitische Förderprogramme an politischem Gewicht. Die transatlantische Partnerschaft wird zunehmend pragmatisch interpretiert: Europa ist kein selbstverständlicher Teil einer gemeinsamen strategischen Vision mehr, sondern eher ein außenpolitischer Partner unter vielen. In der Auseinandersetzung mit Russland steht die EU faktisch stärker auf sich allein gestellt.

Diese Verschiebung bindet Ressourcen – finanzielle wie politische –, die für den industriellen Umbau dringend gebraucht würden. Die Autoindustrie steht damit zwischen allen Fronten.

Eine politische Chance – wenn Deutschland sie nutzt

Und dennoch: Deutschland hat noch die Chance zur Kurskorrektur. Die aktuelle Lage ist kein endgültiger Abstieg, sondern ein kritischer Wendepunkt. Ob daraus eine Erholung oder ein langfristiger Bedeutungsverlust wird, ist eine politische Entscheidung.

Der erste Schritt wäre, die Debatte über Migration und ausländische Fachkräfte aus der innenpolitischen Polarisierung herauszuholen. Die deutsche Autoindustrie – und die Industrie insgesamt – ist auf hochqualifizierte Arbeitskräfte angewiesen: Softwareentwickler, Batterieexperten, KI-Spezialisten, Ingenieure. Dieses Know-how ist global verteilt. Wer in diesem Umfeld weiterhin über „Zuwanderung als Problem“ diskutiert, schwächt die eigene Wettbewerbsfähigkeit.

Zweitens braucht Deutschland einen konsequenten und glaubwürdigen Bürokratieabbau. Langwierige Visa- und Anerkennungsverfahren, komplizierte Unternehmensgründungen sowie schwer zugängliche Förderprogramme machen den Standort für internationale Talente und Investoren zunehmend unattraktiv. In einer globalen Konkurrenz um Zeit, Ideen und Innovation entscheidet längst nicht mehr allein das Gehalt, sondern vor allem Geschwindigkeit, Verlässlichkeit und institutionelle Offenheit. Dass Deutschland im internationalen Ease of Doing Business Index derzeit nur auf Platz 22 rangiert, ist vor diesem Hintergrund ein deutliches Warnsignal. Will das Land seine wirtschaftliche Attraktivität sichern, muss es deutlich höhere Platzierungen anstreben – und die entsprechenden politischen Reformen endlich umsetzen.

Schließlich braucht Deutschland wieder ein positives Zukunftsnarrativ. Eine politische Agenda, die fast ausschließlich von Krisen, Sicherheitsbedrohungen und Verzicht geprägt ist, erstickt Innovationsgeist. Industriepolitik funktioniert nicht ohne gesellschaftliche Zuversicht.

Die Krise der deutschen Autoindustrie ist mehr als eine konjunkturelle Delle. Sie ist ein Spiegel geopolitischer Verschiebungen, technologischer Umbrüche und politischer Versäumnisse. Deutschland kann diesen Moment nutzen – oder ihn verpassen. Entscheidend ist, ob das Land bereit ist, Offenheit und Vielfalt nicht als Risiko, sondern als strategische Ressource zu begreifen.

Denn ohne diese Neubewertung wird nicht nur die Autoindustrie an Boden verlieren, sondern das deutsche Wirtschaftsmodell insgesamt.