21.06.2022, Mecklenburg-Vorpommern, Lubmin: Blick auf Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 und der Übernahmestation der Ferngasleitung OPAL (Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung). (dpa)
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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die Kommissarin der EU-Kommission für Energiefragen Kadri Simson besuchten im Juli Aserbaidschan und unterzeichneten eine Absichtserklärung zur Verdopplung der bestehenden Gaskapazität nach Europa über den südlichen Gaskorridor von jetzt 10 Milliarden auf 20 Milliarden Kubikmeter. Damit einhergehen würde die Erhöhung der Kapazität der TANAP-Pipeline, deren Partner auch Türkiye ist, auf 31 Milliarden Kubikmeter. Über die bestehende Pipeline werden aktuell 6 Milliarden Kubikmeter Gas nach Türkiye und 10 Milliarden Kubikmeter Gas in die EU transportiert. Es versteht von sich selbst, dass die Motivation der EU, diese Kapazität über den südlichen Gaskorridor zu erhöhen, aufgrund der von Russland verursachten Energiekrise entsprechend hoch ist.

Die EU verbrauchte etwa 155 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland. Im Vergleich zu den 10 Milliarden Kubikmetern Erdgas, die über die TANAP-Pipeline in die EU geliefert werden, erscheint diese Quelle zunächst nicht als Alternative. Allerdings braucht die EU derzeit jeden Kubikmeter Erdgas, den sie kaufen kann. So sehr, dass mit dem vereinbarten Ausbau der Kapazität von 10 Milliarden Kubikmeter die Bedeutung der Pipeline für die EU zunehmen wird. Mit dieser alternativen Pipeline, die ungefähr 5 Prozent des EU-Verbrauchs decken würde, können darüber hinaus auch zusätzliche Ressourcen aus dem Kaspischen Meer und Zentralasien in die EU geliefert werden.

Südlicher Gaskorridor statt North Stream 2

Die aktuellen Entwicklungen verdeutlichen, dass insbesondere Deutschland falsche Entscheidungen getroffen hat, um seine Erdgasversorgung zu sichern. Hätte man frühzeitig eine wirksame Strategie zur Steigerung der Kapazität über den südlichen Gaskorridor verfolgt, hätte man die EU in puncto Erdgas heute nicht so in die Enge treiben können. Die Vielfalt der Lieferwege, eines der wichtigsten Elemente der Energiesicherheit, könnte mit Erdgas aus dem kaspischen und zentralasiatischen Raum gesichert werden. Mit der Lieferung von turkmenischem Erdgas über diese Leitung würde die Energiesicherheit der EU, die auch ihre Lieferanten diversifizieren will, über die im Raum stehende Erhöhung der Kapazität des südlichen Gaskorridors gewährleistet werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Länder der Region und die EU ihre Zusammenarbeit in dieser Beziehung verstärken.

Der südliche Gaskorridor ist im Hinblick auf die Möglichkeiten, die er in Aussicht stellt, um bspw. kaspische und zentralasiatische Ressourcen nach Europa zu transportieren, weitaus wichtiger als die mögliche Menge an Erdgas, die über diese Route transportiert werden kann. Insbesondere in dem derzeit krisengeschüttelten Umfeld dürfte der südliche Gaskorridor im Hinblick auf die Energiesicherheit Europas stärker in den Vordergrund rücken. Die wachsenden Spannungen zwischen der EU und Russland werden erhebliche Auswirkungen auf die zukünftige Bedeutung dieses Korridors haben. So könnte die EU in diesen Krisenzeiten mit der Motivation, zusätzliche Kapazitäten durch diese Pipeline zu leiten, zu einem konkreten Projekt zugunsten zentralasiatischer Ressourcen kommen. Durch eine mögliche Kooperation von Türkiye, Aserbaidschan, Turkmenistan, Georgien und der EU wäre es möglich, die Kapazität des südlichen Gaskorridors auf 100 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Als Alternative zu russischem Gas kommt dabei insbesondere der Transfer von Gas aus Turkmenistan, das über die viertgrößten Erdgasreserven der Welt verfügt, über den südlichen Gaskorridor in die EU in Betracht.

Ein Szenario, bei dem sich die EU von Russland lösen kann

Wegen der Unwägbarkeiten bei erneuerbaren Energiequellen wie unvorhersehbaren Naturereignissen und hohen Speicherkosten des erzeugten Stroms werden neben diesen Energiequellen effektive Alternativen wie Kernkraft, Kohle oder Erdgas benötigt. Dabei ist davon auszugehen, dass der Bedarf an Erdgas für die EU, die weiterhin aus Kernkraft und Kohle aussteigen will, noch lange bestehen wird. Daher bietet der südliche Gaskorridor erhebliche Vorteile für die EU, die ihre Abhängigkeit von Russland endgültig beenden will. Die von der EU-Kommissionspräsidentin in Aserbaidschan unterzeichnete Absichtserklärung zur Kapazitätserweiterung ist ein bedeutsamer Schritt für die Zukunft des südlichen Gaskorridors, dessen Bedeutung mit neuen Projekten zusätzlich gesteigert werden kann. Die Fortsetzung der jetzt eingeleiteten Schritte liegt im Interesse der involvierten Länder, einschließlich Türkiye und der EU. In diesem Sinne ist es äußerst wichtig, dass die EU damit beginnt, verstärkt über die Erschließung der kaspischen und zentralasiatischen Ressourcen nachzudenken und konkrete Schritte in diese Richtung zu unternehmen, um die eigene Energiesicherheit zu erhöhen.

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