2021 jährt sich zum 60. Mal das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland. (Archivbild) (dpa)
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Sie kamen ins „Wirtschaftswunder“ im Deutschland der Nachkriegszeit - und viele blieben. Hunderttausende türkische Arbeitnehmer gelangten über das 1961 geschlossene Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik. Die Vereinbarung, an die an diesem Dienstag Politikerinnen und Politiker erinnerten, hat bis heute weitreichende Folgen - knapp drei Millionen türkischstämmige Menschen leben heute dauerhaft in Deutschland.

Wie entstand das Anwerbeabkommen?

Der stark wachsenden deutschen Wirtschaft fehlten Anfang der 1960er Jahre Arbeitskräfte. Die Bundesregierung schloss deshalb am 30. Oktober 1961 mit der Türkei eine Vereinbarung zur Entsendung von Arbeitnehmern. Zuvor hatte es bereits ähnliche Abkommen mit Italien, Spanien und Griechenland über die Entsendung sogenannter Gastarbeiter gegeben.

Wieviele Menschen kamen über das Abkommen?

Bis zum Ende des Abkommens zwölf Jahre später kamen fast 900.000 türkische Arbeitnehmer nach Deutschland. Laut Yunus Ulusoy von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung waren 21 Prozent von ihnen Frauen.

Sollten die Menschen bleiben?

Nein. Anfangs galt ein „Rotationsprinzip“, um eine dauerhafte Einwanderung zu verhindern: Nach zwei Jahren sollten die Menschen in ihre Heimat zurückkehren und durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden. Für die deutschen Unternehmen erwies sich dies aber als aufwendig und teuer, weil sie immer neue Mitarbeiter einarbeiten mussten. Auf ihren Druck wurde die zeitliche Befristung deshalb in einer überarbeiteten Fassung der Vereinbarung 1964 aufgehoben.

Warum wurde das Anwerbeabkommen 1973 ausgesetzt?

Anfang der 1970er Jahren war die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders vorbei. Deutschland steuerte auf eine Rezession zu. Die sozialliberale Bundesregierung beschloss deshalb 1973 einen Anwerbestopp. „Eine normale Arbeitsmigration gab es danach nicht mehr“, sagt Ulusoy.

War ein Familiennachzug möglich?

Anfangs nicht. Erst über eine Änderung des Ausländerrechts wurde dies Mitte der 1960er Jahre möglich. Der Großteil des Familiennachzugs fand laut Ulusoy aber nach dem Ende der Vereinbarung 1973 statt.

Welche Bedeutung hat das Abkommen aus heutiger Sicht?

Seit 1961 seien Millionen Menschen zwischen der Türkei und Deutschland hin- und hergewandert, sagt Experte Ulusoy mit Blick auf Arbeitsmigration, Familiennachzug und auch viele Rückkehrer in die Türkei. Das Anwerbeabkommen sei damit die Grundlage für die rund 2,8 Millionen türkischstämmigen Menschen, die heute in Deutschland dauerhaft lebten.

Wo gibt es Probleme?

Für Atila Karabörklü, Bundesvorstand der türkischen Gemeinde in Deutschland (tgd), fehlt es auch Jahrzehnte nach dem Anwerbeabkommen noch an Wertschätzung für diesen Beitrag der Gastarbeiter-Generation. So bekämen schätzungsweise 30.000 Rentner, die im öffentlichen Sektor und nicht bei Firmen gearbeitet hätten, „nur sehr wenig Rente“, sagt der tgd-Bundesvorstand. Hier könnte Deutschland mehr Hilfestellung leisten.

Ulusoy sieht bei den folgenden Generationen zwar „Erfolgsgeschichten“ und verweist auf 103.000 Türkischstämmige, die in Deutschland selbstständig und als Unternehmer tätig sind. „Auf der anderen Seite ist es aber auch noch immer ein halbleeres Glas.“ Ausbildung- und Aufstiegschancen für viele türkischstämmige Menschen in Deutschland seien noch immer begrenzt. Für sie bestehe die Gefahr, dass sie „in einer Wissensgesellschaft langfristig keine Perspektive haben.“

AFP