Der Besuch von Bundesaußenminister Johann Wadephul in Ankara am Freitag markiert einen möglichen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Deutschland und Türkiye. Nach Jahren politischer Spannungen und einer Phase ideologisch aufgeladener Außenpolitik könnten Berlin und Ankara nun ein neues Kapitel aufschlagen – geprägt von Realpolitik, gegenseitigen Interessen und einer sich wandelnden globalen Ordnung.
Das internationale System hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die Entwicklungen im Gazastreifen haben nicht nur die geopolitische Landschaft, sondern auch die außenpolitische Wahrnehmung vieler Staaten neu geordnet.
In diesem veränderten Umfeld hat sich Türkiye zu einem der einflussreichsten Akteure zwischen Ost und West entwickelt. Als Vermittler in Krisenregionen, sicherheitspolitischer Partner in der NATO und Energiedrehscheibe für Europa hat Ankara seine strategische Bedeutung erheblich ausgebaut.
In diesem veränderten Umfeld hat sich Türkiye zu einem der einflussreichsten Akteure zwischen Ost und West entwickelt. Als Vermittler in Krisenregionen, sicherheitspolitischer Partner in der NATO und Energiedrehscheibe für Europa hat Ankara seine strategische Bedeutung erheblich ausgebaut.
Im Gespräch mit TRT Deutsch erklärte Dr. David Campbell, Politikwissenschaftler an der Universität Wien, dass Türkiye „global betrachtet eine immer wichtigere Rolle“ einnehme. Politisch komme Ankara eine Schlüsselposition im Nahen Osten zu, zugleich sei Türkiye „zentral für Friedensinitiativen im Ukraine-Konflikt“. Auch ökonomisch handle es sich um eine aufstrebende Volkswirtschaft. Vor diesem Hintergrund, so Campbell, seien die außenpolitischen Beziehungen zu Türkiye für Deutschland „von Top-Priorität“.
Vom moralischen Kompass zur strategischen Vernunft
Auch Prof. Enes Bayraklı, Politikwissenschaftler an der Türkisch-Deutschen Universität, betonte gegenüber TRT Deutsch, dass eine weitere Vertiefung und strategische Ausrichtung der deutsch-türkischen Beziehungen lange Zeit durch Kreise in Deutschland behindert worden sei, die Türkiye mit einem „kulturalistischen und statischen Blick“ betrachteten. Dieses überholte Verständnis, so Bayraklı, sei eines der größten Hindernisse für eine moderne Partnerschaft zwischen beiden Ländern.
Die durch den Russland-Ukraine-Krieg ausgelösten geopolitischen Erschütterungen hätten jedoch gezeigt, dass Europa – insbesondere Deutschland – seine sicherheits- und außenpolitische Zusammenarbeit mit Türkiye dringend ausbauen müsse. Dennoch hielten manche Akteure in Berlin an ihren traditionellen Vorbehalten gegenüber Ankara fest.
Für Deutschland wiederum wird Türkiye angesichts wachsender globaler Unsicherheiten zu einem zunehmend wichtigen Partner. Der Verlust der Nord-Stream-Pipelines, die angespannte Lage in Osteuropa und die energiepolitische Abhängigkeit von Drittstaaten zwingen Berlin zu einem Umdenken. Türkiye bietet hier eine strategische Alternative: Es ist ein Transitstaat für Energie aus Aserbaidschan, Zentralasien und dem Nahen Osten – und damit ein Schlüsselpartner für die Diversifizierung europäischer Energiequellen. Ankara verbindet wirtschaftliche, geopolitische und sicherheitspolitische Interessen in einer Weise, die für Deutschland in einer Phase globaler Instabilität unverzichtbar ist.
Gleichzeitig, so der Politikwissenschaftler Dr. Ayhan Sarı von der Türkisch-Deutschen Universität, begegne Deutschland Türkiye weiterhin „mit einer enormen ideologischen Blindheit“. Gegenüber TRT Deutsch erklärte er, Berlin handle „nicht pragmatisch, sondern aus einem moralischen Überlegenheitsgefühl heraus“. Gerade in einer Zeit, in der Russlands Bedrohung wachse, müssten die Beziehungen zu Partnern wie Frankreich, Großbritannien und auch zu Türkiye vertieft werden. Sarı betont jedoch, dass in Berlin ideologische Denkmuster häufig pragmatisches Handeln verhindern.
Sicherheit durch Kooperation – nicht durch Distanz
Auch in sicherheitspolitischer Hinsicht gewinnt Türkiye für Berlin an Bedeutung. Als NATO-Mitglied mit direktem Zugang zu mehreren Krisenregionen spielt das Land eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung der europäischen Nachbarschaft. In der aktuellen Gaza-Krise ist Ankara einer der Garantiestaaten der Waffenruhe und setzt sich für deren dauerhafte Einhaltung ein.
Die geopolitischen Umbrüche nach dem Russland-Ukraine-Krieg und die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus zwingen Europa und insbesondere Deutschland, ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik neu zu ordnen, erklärte Bayraklı. Dies sei, so Bayraklı, „kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit“. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass konservative Kreise in Europa ihre Haltung gegenüber Türkiye überdenken und die Blockadepolitik einzelner EU-Mitgliedstaaten wie Griechenland und der Republik Zypern überwunden werde.
Dass Türkiye zugleich enge Gespräche mit den USA, Ägypten und Katar führt, verdeutlicht ihre gewachsene diplomatische Handlungsfähigkeit. Für Deutschland, das sicherheitspolitisch stark transatlantisch orientiert ist, ergibt sich daraus eine klare Schlussfolgerung: Ein stabiles und kooperatives Türkiye liegt im eigenen strategischen Interesse. Sollte sich Washington – insbesondere unter Präsident Donald Trump – erneut stärker auf Ankara zubewegen, dürfte auch Berlin diesem Kurs folgen.
Neue Nüchternheit im Verhältnis zu Ankara
Die Merz-Regierung scheint zudem gewillt, die Beziehungen zu Türkiye auf eine rationalere und pragmatischere Grundlage zu stellen als in der Zeit der Ampelkoalition. Ein solcher Ansatz könnte nicht nur zur politischen Entspannung beitragen, sondern auch neue Kooperationsfelder in der Energie-, Verteidigungs- und Handelspolitik eröffnen. Besonders im Militär- und Rüstungsbereich werde die strategische Bedeutung einer vertieften Kooperation sichtbar, da die EU ihre Verteidigungsanstrengungen lange vernachlässigt habe und nun zwar über finanzielle Mittel, nicht jedoch über ausreichende industrielle Kapazitäten verfüge – während Türkiye parallel seinen Militärsektor erheblich ausgebaut habe, was die Wahrscheinlichkeit türkischer Militärexporte nach Europa und insbesondere nach Deutschland erhöht, erklärte Campbell.
Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Türkiye haben sich nach einer von Spannungen geprägten Phase in den vergangenen fünfzehn Jahren, insbesondere seit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges, wieder stabilisiert, erklärte Bayraklı. Deutschland sei innerhalb der EU das Land, zu dem Türkiye die engsten kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verbindungen pflege. Einen entscheidenden Beitrag dazu leiste die rund drei Millionen Menschen umfassende türkischstämmige Gemeinschaft in Deutschland, die als soziales Bindeglied fungiere und dafür sorge, dass politische Entwicklungen in einem Land auch im anderen auf Resonanz stoßen, so Bayraklı.
Der bilaterale Handel erreichte 2024 ein Volumen von rund 47,5 Milliarden Dollar – mit steigender Tendenz. Deutschland bleibt wichtigster Absatzmarkt für türkische Exporte, während Millionen deutscher Touristen jedes Jahr die türkische Riviera besuchen. Gleichwohl bleiben Themen wie gesellschaftliche Teilhabe, Diskriminierung und interkulturelles Zusammenleben zentrale Punkte auf der politischen Agenda.
Eine Beziehung, die erwachsen wird
Der Besuch Wadephuls in Ankara könnte somit mehr sein als ein diplomatisches Routineereignis. Er signalisiert das Bewusstsein beider Seiten, dass gegenseitige Abhängigkeiten nicht länger als Schwäche, sondern als Stärke verstanden werden müssen. Während Türkiye seine regionale und globale Rolle weiter ausbaut, steht Deutschland vor der Herausforderung, seine Außenpolitik realistischer und strategischer zu gestalten.
Beide Länder erkennen zunehmend, dass die Zukunft ihrer Beziehungen in Kooperation, nicht in Konfrontation liegt. Wenn dieser Kurs fortgesetzt wird, könnten die deutsch-türkischen Beziehungen tatsächlich in eine neue, stabilere Phase eintreten – getragen von gemeinsamen Interessen, sicherheitspolitischem Pragmatismus und einer wachsenden gegenseitigen Anerkennung. Die deutsch-türkische Partnerschaft verfüge über erhebliche ungenutzte Potenziale, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob die künftige Beziehung auf eine EU-Mitgliedschaft oder einen alternativen Status hinauslaufen solle, wobei Deutschland hier eine besondere Vermittlerrolle zukommen könnte, erklärte Campbell.



















