Meinung
WELT
5 Min. Lesezeit
Charlie Kirk: Die Gefahr der Instrumentalisierung
Der Mord an Charlie Kirk erschüttert die USA – doch die größere Gefahr liegt in seiner Instrumentalisierung. Rechtsextreme Kräfte versuchen bereits, daraus Kapital zu schlagen. Staaten und Gesellschaften müssen jetzt besonders wachsam sein.
Charlie Kirk: Die Gefahr der Instrumentalisierung
Foto: Elizabeth Frantz/REUTERS / Reuters
15. September 2025

Charlie Kirk wurde am 10. September im US-Bundesstaat Utah während einer öffentlichen Rede an der Utah Valley University von einer Kugel getroffen. Kirk galt als eine der einflussreichsten Stimmen der jungen konservativen Bewegung in den USA, wurde als „rechte Hand“ von Donald Trump bezeichnet und war für viele junge Menschen dessen Sprachrohr. Er war Gründer der Organisation Turning Point USA. Doch nicht nur in den Vereinigten Staaten, auch global war Kirk ein Social-Media-Phänomen: 5,2 Millionen Follower auf X, 7,3 Millionen auf TikTok. Bei der Mobilisierung junger Wähler spielte er eine Schlüsselrolle im Wahlkampf 2024 und gilt als einer der Architekten von Trumps Wahlsieg.

Unmittelbar nach dem Anschlag bezeichnete Donald Trump Kirk als „Patrioten, der für Freiheit, Demokratie und das amerikanische Volk kämpfte“. Er erklärte, er sei „voller Trauer und Wut“. Der US-Autor Kyle Spencer hatte Kirk zuvor als „charismatischen Sprecher des Trumpismus und extremer Ideen“ beschrieben. Kirks Tod bedeutet daher nicht nur einen individuellen Verlust, sondern die Ausschaltung einer Symbolfigur der Trump-nahen Rechten.

Das Attentat auf Charlie Kirk wurde schnell zum Sinnbild eines fragilen Sicherheitsklimas in den USA. Allein im ersten Halbjahr 2025 wurden Hunderte terroristische und zielgerichtete Gewalttaten registriert – mit Dutzenden Toten und Hunderten Verletzten. Das Land steht an einem Wendepunkt. Die Debatte lässt sich nicht allein auf die Psychologie eines Einzeltäters reduzieren. Das schwindende Vertrauen zwischen Staat und Gesellschaft, der moralische Überbietungswettbewerb in der Politik, die Fragmentierung der Medienlandschaft und die strukturelle Leichtigkeit des Waffenbesitzes erzeugen gemeinsam ein hochriskantes Umfeld.

Warum Gefährlicher als die 1960er-Jahre?

Das Bild erinnert an die Attentate und Unruhen der 1960er-Jahre. Doch zwei Faktoren machen die heutige Lage weitaus gefährlicher. Erstens beschleunigen soziale Medien und geschlossene Online-Communities den Radikalisierungsprozess. Zweitens sind hochgradig tödliche Waffen weit verbreitet und leicht zugänglich. Diese doppelte Dynamik verwandelt individuelle Wut innerhalb von Minuten in kollektive Panik und erhöht das Risiko von Nachahmungstaten.

Michael Jensen, Forschungsdirektor des START-Instituts (Study of Terrorism and Responses to Terrorism) an der University of Maryland, bezeichnete die Ereignisse des ersten Halbjahres 2025 als „Anzeichen wachsender gesellschaftlicher Unruhe“. Laut dem Bericht Terrorism and Targeted Violence (T2V) wurden zwischen dem 1. Januar und 30. Juni 2025 über 520 Vorfälle registriert; sie forderten 96 Todesopfer und führten zu 329 Verletzten. Betroffen waren mehr als 330 Städte, mit Ausnahme von Montana und Wyoming alle Bundesstaaten.

Ein Vergleich zeigt das Ausmaß: Im ersten Halbjahr 2024 waren es 375 Vorfälle. Jensen zufolge bedeutet die Zahl von 523 im Jahr 2025 einen Anstieg um 39,5 Prozent. Besonders auffällig ist der Anstieg erfolgreicher Angriffe: von 195 im ersten Halbjahr 2024 auf 294 im gleichen Zeitraum 2025 – ein Plus von 50,8 Prozent. Die Zahl der Todesopfer stieg um 28 Prozent, die Zahl der Verletzten um 115 Prozent. Noch alarmierender: Die Zahl der Anschläge mit vielen Opfern – mit mindestens vier Toten oder Verletzten – stieg von acht auf 23, ein Anstieg um 187,5 Prozent. Dieses Bild deutet nicht nur auf eine Verhärtung der Täterprofile hin, sondern auch auf eine strategischere Zielauswahl. Informationsströme und der einfache Zugang zu Waffen verkürzen die Distanz zwischen Intention und Tat. Damit wird die präventive Kapazität der Sicherheitsorgane massiv untergraben.

Globaler Rechtsextremismus und Kirks Symbolkraft

Die Ermordung von Charlie Kirk wurde binnen weniger Tage in London zum Mobilisierungsmittel. Dort organisierte der bekannte Rechtsextremist Tommy Robinson die „Unite the Kingdom“-Demonstration, an der mehr als 100.000 Menschen teilnahmen. Robinson inszenierte Kirk als „Märtyrer für die Freiheit“. Elon Musk sprach per Video-Botschaft. Er verkündete die Parole „Kämpfen oder sterben“ – eine nahezu identische Rhetorik zu Trumps Kampfansagen in den USA. Dieses Bild zeigt: Die rechtsextreme Rhetorik aus Amerika dient mittlerweile als Referenzrahmen für rechtsextreme Bewegungen in Europa.

Der britische Premierminister Keir Starmer erklärte nach den Ausschreitungen, Großbritannien werde sich „niemals dem Rechtsextremismus ergeben“. Angriffe auf die Polizei und Einschüchterungen gegen Minderheiten seien inakzeptabel. Doch man darf nicht vergessen: Solche Demonstrationen sind nicht nur ein Produkt nationaler Politik. Sie sind Ausdruck eines globalen rechtsextremen Netzwerks, das Gewalt durch gegenseitige Bezugnahme verstärkt. Trumps „Krieg gegen die radikale Linke“ in Washington und Robinsons Hetze gegen Migranten in London sind Teil desselben politischen Ökosystems.

Die Bedeutung Demokratischer Reflexe

So düster das Bild ist, von einer unausweichlichen Entwicklung kann keine Rede sein. Zeitgleich mit der Londoner Kundgebung mobilisierte die Bewegung „Stand Up to Racism“ Hunderte Menschen. Mit Parolen wie „Refugees are welcome here“ machten sie deutlich: Entgegen der Behauptung der extremen Rechten besteht die Gesellschaft nicht ausschließlich aus einem nationalistischen Block. Im Gegenteil: Eine starke Gegenmobilisierung zugunsten von Vielfalt und Solidarität ist sichtbar. Demokratische Reflexe sind weiterhin vorhanden – und wenn sie aktiviert werden, können sie das Narrativ eines „unaufhaltsamen Aufstiegs“ der extremen Rechten entkräften.

Die Aufgabe für die USA und Europa ist klar: nicht der rechtsextremen Rhetorik nachzugeben, die Gewalt normalisiert, sondern gesellschaftliche Resilienz aufzubauen und politische Gewalt als überparteiliche Sicherheitsbedrohung zu erkennen. Denn das Problem ist nicht die imaginäre Gefahr einer „radikalen Linken“, sondern die polarisierenden Algorithmen der sozialen Medien, der grenzenlose Zugang zu Waffen und der Zusammenbruch des Vertrauens in Institutionen. Ohne diese Realität anzuerkennen, wird es weder in den USA noch in Europa möglich sein, die Gewaltspirale zu durchbrechen.