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Kann die Verteidigungsindustrie eine Reindustrialisierungsstrategie für Europa sein?
Europa steckt in der Stagnation – Türkiye zeigt mit einer rasant wachsenden Verteidigungs- und Hightechindustrie, wie Dual-Use-Technologien ganze Branchen beleben können. Könnte dieses Modell Europas Reindustrialisierung anstoßen?
Kann die Verteidigungsindustrie eine Reindustrialisierungsstrategie für Europa sein?
Kann die Verteidigungsindustrie eine Reindustrialisierungsstrategie für Europa sein? / Foto: AP / AP

Viele europäische Länder sehen sich mit wirtschaftlicher Stagnation konfrontiert. Selbst Deutschlands Wirtschaft als Zugkraft der EU zeigt Schwächen: Das Wachstum stockt, Entlassungen nehmen zu. Deutschlands wirtschaftliche Gesundheit hat erhebliche Auswirkungen auf ganz Europa, und die derzeitige Situation belastet auch andere bereits schwächelnde Volkswirtschaften der Region.

Immer lauter werden daher Forderungen nach Reindustrialisierung oder „intelligenter Industrialisierung“. Angesichts der Energiekrise in Europa ist zudem entscheidend, dass neue Schlüsselsektoren nicht energieintensiv sind. Während Europa einst die Werkstatt der Welt war, schrumpft der Beitrag der Industrieproduktion zum BIP kontinuierlich. Selbst der für die deutsche Industrie so wichtige Automobilsektor gibt zunehmend Anlass zur Sorge.
Der Industrieanteil am BIP in der EU liegt heute im Durchschnitt bei nur noch etwa 17 Prozent. In einigen Ländern, wie beispielsweise Spanien mit nur 11 Prozent, ist er sogar noch niedriger. Zunehmende Handelsstreitigkeiten und Chinas rasch wachsende Produktionskapazitäten zwingen die EU zum Handeln.

Hinzu kommt der anhaltende Ukraine-Krieg, der die Risikowahrnehmung und sicherheitspolitischen Konzepte in fast allen europäischen Ländern grundlegend verändert hat. Die EU steht somit vor einer zweifachen Herausforderung: wirtschaftliche Stagnation einerseits und wachsende sicherheitspolitische Bedrohungen andererseits. Ein Wiederaufrüstungsprozess hat bereits begonnen, der höhere Verteidigungsausgaben aller Mitgliedstaaten erfordert. Die EU sucht nach einem Weg aus diesem doppelten Dilemma.

Historische Vorbilder: Verteidigung als Innovationsmotor

Die europäische Wirtschaftsgeschichte liefert hierfür wertvolle Anregungen. In der Vergangenheit bildeten Rüstungsfabriken oft das industrielle Rückgrat. Viele heute bekannte Marken begannen als Verteidigungsunternehmen.So wurde das heute allgegenwärtige GPS ursprünglich für militärische Zwecke im Zweiten Weltkrieg entwickelt. Auch grundlegende Logistiksysteme und Infrastrukturen entstanden oft aus Sicherheitserwägungen. Die ersten Großflugzeuge waren für den Transport von Munition und für Langstreckenangriffe konzipiert, nicht für Passagiere. Stärkere Triebwerke, robustere Strukturen, effizientere Flügeldesigns und Systeme wie Radar wurden primär mit militärischen Geldern finanziert und vorangetrieben.

Selbst die meisten bekannten Automobilmarken – darunter BMW, Renault und Rolls-Royce – begannen als Hersteller von Militärfahrzeugen. Sie nutzten ihr im Krieg erworbenes Wachstum, ihr technologisches Know-how und ihre Infrastruktur nach 1945 für die zivile Produktion. Der Krieg erwies sich oft als brutaler, aber äußerst effektiver Innovationsbeschleuniger für Technologien wie Radar, Düsentriebwerke, Computer, Kunststoffe, Antibiotika und die Kerntechnik.

Spillover-Effekte und der Wandel zur Dual-Use-Technologie

Wie lassen sich diese historischen Lektionen heute anwenden? Eine Rückkehr zur Rüstungsindustrie des frühen 20. Jahrhunderts ist weder möglich noch wünschenswert. Die Kriegsführung und die Technologie haben sich radikal verändert. Der entscheidende Unterschied heute ist, dass moderne Verteidigungssysteme maßgeblich auf Technologien und Know-how aus dem zivilen Sektor angewiesen sind.

Die Schlüsselkomponenten moderner Verteidigungstechnik sind fortschrittliche Materialien, Optronik, Kommunikationstechnologie, Weltraum- und Satellitentechnik, Signalverarbeitung, Künstliche Intelligenz und Chipdesign. Die Verteidigungsindustrie besteht heute weniger aus reiner Metallverarbeitung, sondern wird durch wissensintensive, hochspezialisierte und „intelligente“ Elemente geprägt.

Es geht nicht mehr nur darum, eine Drohne zu bauen, sondern sie mit intelligenter Steuerung, hochauflösenden Kameras, leistungsfähigen Radaren und langlebigen Batterien auszustatten. Technologien, die ursprünglich für den zivilen Markt entwickelt wurden, finden immer häufiger militärische Anwendungen. Diese „Dual-Use-Technologien“ sind zum entscheidenden Merkmal moderner Verteidigungsfähigkeiten geworden.

Der Ort der Innovation hat sich verlagert: Während Internet und GPS noch in staatlich finanzierten Laboren wie der US-amerikanischen ARPA entstanden, wird die Spitzenforschung in KI und anderen Zukunftstechnologien heute in den Büros von Google und anderen Tech-Giganten betrieben. Die USA reagierten mit der Gründung der Defense Innovation Unit (DIU) im Silicon Valley auf diese Verschiebung. China verfolgt eine Strategie der „zivil-militärischen Fusion“, um die Grenzen zwischen privatem und staatlichem Sektor zu verwischen.
Vor diesem Hintergrund könnten der Verteidigungssektor und Dual-Use-Technologien die treibende Kraft für eine europäische Reindustrialisierung sein.

Türkiye als mögliches Vorbild

Die bemerkenswerte Entwicklung der türkischen Verteidigungsindustrie könnte für die EU eine Inspirationsquelle sein. Die Exporte stiegen von lediglich 248 Millionen US-Dollar in den frühen 2000er Jahren auf rekordverdächtige 10 Milliarden US-Dollar im Jahr 2025. Mit über 3.500 Firmen und fast 100.000 Beschäftigten ist die Branche heute einer der wichtigsten Wirtschaftsmotoren von Türkiye.

Die Zahl der Verteidigungsprojekte stieg von 62 im Jahr 2002 auf heute 1.380 Projekte mit einer Lokalisierungsrate von 80 Prozent und einem Gesamtvolumen von über 100 Milliarden US-Dollar. Dieser Aufschwung, der sich über fast 15 Jahre vollzog, wurde maßgeblich durch Dual-Use-Technologien ermöglicht und belebte sowohl den Rüstungs- als auch den zivilen Sektor.
Während Ankara als Hauptstadt der Branche gilt, entstehen bedeutende Standorte wie die größte Pulver- und Munitionsfabrik Europas nun auch in anatolischen Städten wie Çorum. Das in der Verteidigung erworbene Wissen fließt in zivile Produkte: HAVELSAN entwickelt Autobahnmautsysteme und E-Government-Software, ASELSAN Motoren für Elektrobusse und Medizingeräte.

Die jüngste Kooperation des Drohnenherstellers BAYKAR mit den italienischen Luftfahrtkonzernen Leonardo und Piaggio unterstreicht zudem das Potenzial für eine Win-win-Zusammenarbeit zwischen der EU und Türkiye in diesem Sektor. Die türkische Erfahrung zeigt, wie die Verteidigungsindustrie als Katalysator für eine breite Industrialisierung und Technologietransfer in zivile Bereiche wirken kann.

Europa steht an einem Scheideweg. Die Verteidigungsindustrie mit ihrem Fokus auf Dual-Use-Technologien könnte zum Katalysator für eine smarte Reindustrialisierung werden. Diese Strategie würde nicht nur die Sicherheit erhöhen, sondern auch Europas Wettbewerbsfähigkeit in Schlüsseltechnologien stärken. Die türkische Erfahrung liefert dafür ein vielversprechendes Modell.