Vermisster Junge im Schrank: Angeklagter steht vor Gericht (dpa)
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Den Blick gesenkt, das Gesicht hinter einer Corona-Maske: Der Prozess hatte kaum begonnen, da lehnte sich der Angeklagte auf seinem Stuhl zurück, ließ die über einstündige Anklageverlesung scheinbar ruhig über sich ergehen. Rund sechs Monate ist es her, dass in seiner Wohnung in Recklinghausen ein seit zweieinhalb Jahren vermisster Junge aus Duisburg gefunden wurde. Zufällig – bei einer Polizei-Razzia wegen Kinderpornografie. Der inzwischen 16-Jährige kauerte in einem Schrank. „Ich habe erst nur die Füße gesehen und mich richtig erschrocken“, sagte eine Polizistin den Bochumer Richtern am Freitag. Der Junge habe nur ein T-Shirt und eine kurze Hose angehabt. Am Handgelenk trug er zwei silberne Armbänder, die er sich verschämt abgestreift habe. An einem war ein Anhänger mit der Aufschrift „Ich liebe Dich“. Ein Geschenk des Angeklagten, soll der 16-Jährige dazu gesagt haben. „Er war abweisend, fast schon bockig“, so die Polizistin im Prozess am Bochumer Landgericht. „Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, dass er überhaupt nicht begeistert war, dass wir ihn gefunden haben.“ Später, im Streifenwagen, sei er dann entspannter gewesen.

Verteidiger: „Wir werden die Beweisaufnahme abwarten“

Laut Staatsanwaltschaft wurde der Teenager zwischen Juni 2018 und Dezember 2019 fast jeden zweiten Tag sexuell missbraucht. Zum Prozessauftakt wollte sich der Angeklagte dazu allerdings nicht äußern. „Wir werden die Beweisaufnahme abwarten“, so Verteidiger Markus Kluck am Rande des Prozesses. „Vielleicht kommt es später noch dazu, dass Angaben gemacht werden.“ Bei einer ersten Vernehmung soll der Angeklagte von „Freiwilligkeit“ gesprochen haben - zumindest in Bezug auf kinderpornografische Bilder, auf denen auch er zu sehen sein soll. Die Vernehmung des 16-Jährigen soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Wie es ihm heute geht? „Er hat einen ganz langen und schwierigen Weg vor sich“, sagte seine Anwältin Marie Lingnau vor Prozessbeginn. Und auf die Frage, warum er nicht aus der Wohnung des Angeklagten geflohen sei: „Man darf nicht vergessen, dass er erst 13 war, als er in die Fänge eines Mannes geriet, der sehr manipulativ ist.“ Der Teenager war im Juni 2018 aus einer Wohngruppe im nordrhein-westfälischen Oer-Erkenschwick verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. „Dem Rat des Angeschuldigten entsprechend entfernte er die SIM-Karte aus seinem Mobiltelefon, um nicht geortet werden zu können“, heißt es in der Anklage. Der 45-jährige Mann aus Recklinghausen ist bereits im März 2018 wegen Verbreitung von Kinderpornografie zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Im aktuellen Prozess drohen ihm im Falle einer Verurteilung bis zu 15 Jahre Haft. Mit einem Urteil ist voraussichtlich im Juli zu rechnen.

dpa