Über die Mauer des Flughafens in Kabul wird ein Baby an die amerikanische Armee übergeben. (Reuters)
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Während am Flughafen von Kabul das Chaos regiert, das wir in Echtzeit über Videos miterleben können, hat von Washington über London bis Berlin das innenpolitische Hickhack um die wesentliche Frage begonnen: „Wer ist für das politische und militärische Debakel verantwortlich?“ Soldaten beginnen nicht Kriege, noch können sie diese beenden. Es stehen immer politische Entscheidungen am Anfang und am Ende. Der Schwarze Peter wird zwischen Regierungsbüros, Nachrichtendiensten und Generalstab hin und her geschoben. Ob es nun die CIA ist, der deutsche Bundesnachrichtendienst oder die vielen ungehörten Rufer in der Wüste, sie alle setzen sich gegen die Aussagen ihrer Regierungschefs zur Wehr.

Verantwortung übernehmen

Communiqués mit balsamvollen Worten wurden noch am Abend des 15. August verteilt, als die Milizen der rund 70.000 Taliban die Regierungsgebäude von Kabul übernahmen. Es ist Sommer, und offenbar wurden manche auf dem falschen Fuß erwischt. Dabei war vieles absehbar; auch wenn ich mich bei der Lektüre der Tweets der NATO der letzten Wochen frage, ob die NATO-Vertreter tatsächlich so weltfremd sind. Offenbar ja, denn erschreckend inkompetent sind die Auftritte des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, der immerhin seit 2014 die Militärallianz koordiniert.

Ich schrieb Anfang des Monats, dass historisch betrachtet im August oft Krisen ausbrechen. Dann stolpert man zwischen Tee und Dinner in den großen Krieg, wie dies 1914 der Fall war. Die Kriegserklärungen der Habsburger wurden als Telegramme am Urlaubsort des Kaisers in Bad Ischl aufgegeben. 1939 liefen die Kriegsvorbereitungen im August auf Hochtouren, und niemand wollte es wahrhaben. Krisen wie jene in der zerfallenden Sowjetunion 1991 oder dann 2008 in Georgien waren im August. Die Lage in Afghanistan fiel nicht vom Himmel, Turbulenzen bahnten sich seit Mai an, als die US-Truppen ohne ordentliche Übergabe abzogen.

Berlins Politik der Werte und die Wirklichkeit

Es gab auch für die deutsche Bundeswehr einen Abzugskalender, was u.a. das Ausfliegen des Alkoholvorrats im Juni zum Inhalt hatte, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete. Ob Bierkisten wichtiger als Menschen sind – so lautet mancher Kommentar. Am 9. Juni stellte der FDP-Abgeordnete Christoph Hoffmann Außenminister Heiko Maas die Frage, ob „privilegierte Ausreisemöglichkeiten“ auch für Entwicklungshelfer und nicht nur für jene Afghanen, welche den Einsatz der Bundeswehr als Dolmetscher, Fahrer etc. 20 Jahre lang unterstützt hatten, bestünden. Dass die Taliban „in wenigen Wochen“ das Zepter in der Hand hielten, sei nicht die Grundlage seiner Annahme, antwortete Maas. „So sehr ich das unterstütze, dass alle, die für die Bundesregierung gearbeitet haben, die einer unmittelbaren Gefährdungslage unterliegen, jetzt das Angebot bekommen, nach Deutschland zu kommen. Das auszuweiten auf die Entwicklungshilfe, dann reden wir nicht mehr über 2000 Menschen, dann reden wir über 20.000 Menschen“, erklärte er. Das sehe aus wie ein „Massenexodus“ aus Afghanistan, sagte Maas damals. Es handelte sich hierbei um eine von vielen Fehleinschätzungen.

Das Schlamassel im Umgang mit Afghanistan führt nicht zu Rücktritten. Gerade in Deutschland wurden Politiker aus anderen Gründen aus dem Amt gejagt, oft ging es um die vermeintlichen Werte. Diese sind nun heftig angekratzt. Denn wie sich das mächtigste Militärbündnis der Welt aus dem Staub macht, wird Folgen haben. Erstaunlicherweise fand der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell als einer der wenigen klare Worte, als er im außenpolitischen Ausschuss des Europaparlaments die Machtübernahme durch die Taliban als „Katastrophe für die Werte und die Glaubwürdigkeit des Westens“ bezeichnete. Der Blick ist nun aber auf die EU-Innenminister gerichtet ,nicht auf die europäische Außenpolitik, denn diese fällt ohnehin nicht ins Gewicht.

Es geht um „legale Fluchtrouten“, wie es die EU-Kommission verkündet, und um die vielen Positionen unter den 27 EU-Regierungen. Wien geht noch härter auf Konfrontation zu Brüssel. Die Lage an der Außengrenze im Baltikum zu Belarus steht seit Monaten im Schlaglicht. Hier wie auch im Mittelmeer werden Menschen auf der Flucht sein. Einen Plan hat niemand.

Dieser chaotische Abzug ist viel schlimmer als das, was sich 1975 in Vietnam abspielte. Ein riesiges Waffenarsenal bleibt zurück. Man erinnere sich an das Debakel der US-Truppen in Somalia, wo sie 1992 mit viel medialem Getöse einmarschierten, ohne sich über die lokalen Machtverhältnisse auch nur ein wenig zu informieren. Viele der von den USA ausgebildeten Sicherheitsleute machten danach Karriere als Piraten am Horn von Afrika.

Laut wird spekuliert, ob der völlig unehrenhafte Abzug des Westens, mit dem zu rechnen war, wenn man ein wenig die Geschichte der Region studiert hat, den radikalen Islamisten, ob in Westafrika oder im Nahen Osten, Auftrieb geben könnte. Wahrscheinlich ja.

Moskau und Peking mit klarem Kurs

Während also die USA wie auch die meisten EU-Staaten ihre Botschaften schließen, halten Russland, China wie auch die Türkei den Betrieb aufrecht. Will man die Taliban nur in Katar treffen? Dort verhandelten die USA ihren Abzug an der Regierung in Kabul vorbei.

Zur Lage der Bodenschätze am Hindukusch erstellten sowjetische Geologen vor 1989 eine Übersicht. Lithium hatte damals noch nicht den Wert, den es heute hat. China wird Handel treiben, Moskau wird Geopolitik machen. Es ist viel zu früh, eine Prognose zu treffen. Aber eines ist sicher: Eine Kooperation mit Moskau und Peking eröffnet andere Perspektiven als „regime change“ und „nation building“, wie es EU und USA mit ihren humanitären Interventionen praktizierten.

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