von Selenay Keskin
Ein unscheinbarer Elternbrief aus einer Wiener Volksschule hat eine landesweite Diskussion über den muttersprachlichen Türkisch-Unterricht entfacht. Die FPÖ griff das Schreiben sofort auf, verbreitete es in sozialen Medien und stellte es in den Kontext einer angeblichen „Parallelgesellschaft“. Für die Partei war es ein willkommener Anlass, um ihre altbekannte Linie gegen Migration und kulturelle Vielfalt zu bekräftigen. Der Fall zeigt, wie schnell ein lokales Ereignis in Österreich zu einem nationalen Politikum werden kann – insbesondere wenn es um Themen wie Integration, Schule und Sprache geht, die besonders emotional diskutiert werden.
Die FPÖ hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zur prägenden Kraft des Rechtspopulismus in Österreich entwickelt. Seit Jörg Haider die Partei in den 1980er- und 1990er-Jahren nach rechts führte, ist sie für ihre Zuspitzungen in Migrationsfragen bekannt. Die Strategie ist klar: Emotionale Themen werden in den Mittelpunkt gestellt, komplexe soziale und ökonomische Zusammenhänge auf einfache Schlagworte reduziert. Migration, Asyl, Religion und Sprache werden zum Hauptschauplatz politischer Auseinandersetzung gemacht. Das Thema muttersprachlicher Unterricht passt perfekt in dieses Muster, weil es gleichzeitig Fragen der Integration, der Bildungsgerechtigkeit und der nationalen Identität berührt.
TRT Deutsch sprach zu der aktuellen Kontroverse mit dem Experten Klaus Jürgens, der die Dynamiken hinter der Debatte einordnet. „Ich erinnere mich an die Jahre vor dem Maastricht-Vertrag von 1992, als selbst linke Bewegungen und Gewerkschaften die Freizügigkeit für künftige EU-Mitbürger ablehnten – aus Angst vor Arbeitsplatzverlust“, sagt Jürgens. „Heute erleben wir eine große rechtsextreme Szene, die neue Sündenböcke sucht. Da man sich an Italiener, Spanier und Portugiesen gewöhnt hat, werden nun andere Nationalitäten ins Visier genommen. Die FPÖ fürchtet ein erfolgreiches und starkes Türkiye – und nutzt das Thema für ihre Agenda.“
Identitätspolitik als Kernstrategie
Die politische Instrumentalisierung solcher Themen ist für die FPÖ nicht neu. Seit Jahren setzt sie darauf, gesellschaftliche Konflikte zuzuspitzen und die eigenen Anhänger durch das Bild einer bedrohten „österreichischen Identität“ zu mobilisieren. Ihre Kampagnen arbeiten oft mit Zuspitzungen, die den Eindruck erwecken sollen, Österreich stehe kurz vor dem Verlust seiner kulturellen Homogenität. Das Thema Türkisch-Unterricht liefert dafür eine ideale Projektionsfläche: Es lässt sich als Symbol für „Integrationsverweigerung“ darstellen, selbst wenn es in der Praxis um eine schulische Förderung der Muttersprache geht, die seit Jahrzehnten gesetzlich vorgesehen ist.
Auch die jüngste Kritik am muttersprachlichen Unterricht ordnet Jürgens genau in diese Strategie ein. „Rechtspopulisten suchen Themen, die von den eigentlichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen ablenken“, erklärt er. „Es geht darum, Wähler zu mobilisieren, die eigene negative Erfahrungen gemacht haben oder ökonomisch unter Druck stehen. Ein Sündenbock-Thema wie der Türkisch-Unterricht eignet sich ideal, um diesen Unmut zu kanalisieren.“
Gleichzeitig weist Jürgens darauf hin, dass es im Alltag tatsächlich Herausforderungen gibt, die Eltern und Lehrkräfte beschäftigen. „Es gibt Eltern, die kritisieren, dass Schüler in den Pausen nur in ihrer Muttersprache reden und Freundeskreise nach Herkunft getrennt bleiben. Das ist eine reale Herausforderung“, betont er. „Doch die FPÖ missbraucht diese Diskussion für Polemik. Sie verfolgt keine integrationsfördernden Ziele, sondern betreibt offen Ausgrenzung von türkischen Schülern – obwohl im Elternbrief nicht einmal eine bestimmte Sprache genannt wird.“
Tatsächlich hat der muttersprachliche Unterricht in Österreich eine lange Tradition. Schon in den 1970er-Jahren wurden erste Angebote für Kinder von sogenannten „Gastarbeitern“ geschaffen, um ihre schulische Entwicklung zu unterstützen. Ziel war es, den Kindern nicht nur Deutschkenntnisse zu vermitteln, sondern auch ihre Muttersprache zu fördern, da Studien zeigen, dass ein stabiler Erwerb der Erstsprache die Zweitsprache erleichtert. Später wurde das Angebot ausgeweitet und auf eine rechtliche Grundlage gestellt. Heute nehmen zehntausende Schülerinnen und Schüler freiwillig am muttersprachlichen Unterricht teil – nicht nur auf Türkisch, sondern in mehr als zwanzig Sprachen, darunter Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Albanisch oder Arabisch. Die Debatte, die nun geführt wird, blendet diesen bildungspolitischen Hintergrund jedoch oft aus.
Die FPÖ nutzt diesen Umstand, um das Thema symbolisch aufzuladen. Sie präsentiert den muttersprachlichen Unterricht als Bedrohung für die Integration, obwohl Bildungsexperten betonen, dass Sprachförderung in der Herkunftssprache den Erwerb der Bildungssprache Deutsch nicht behindert, sondern unterstützt. Die Rhetorik der Partei dient vor allem dazu, ein Klima der Polarisierung zu schaffen.
Ein europäischer Trend der Polarisierung
Auch der größere europäische Kontext ist für Jürgens entscheidend. „Österreich ist nicht allein. In vielen EU-Ländern werden berechtigte Sorgen von Menschen instrumentalisiert, um Stimmung gegen Migranten zu machen“, warnt er. „In wirtschaftlich schwierigen Zeiten braucht man einen Sündenbock – das Ergebnis ist eine Polarisierung der Gesellschaft. Die Wirtschaftskrise bleibt ungelöst, während man die Muttersprache von Minderheiten ins Visier nimmt. Die Großkundgebungen gegen Migranten in England zeigen, dass dies ein gesamteuropäisches Phänomen ist.“
Besonders gefährlich ist für Jürgens die wachsende Tendenz, Sprach- und Bildungspolitik zu einem ideologischen Schlachtfeld zu machen. „Überspitzt gesagt ist das der letzte ideologische Zufluchtsort der Populisten. Wenn Menschen nicht wissen, wie sie am Monatsende noch Essen auf den Tisch bringen sollen, wird die Sprache von Migranten für diese Probleme verantwortlich gemacht – und nicht Wirtschaftspolitik, globale Krisen oder Kriege.“
Die Debatte um den muttersprachlichen Unterricht an österreichischen Schulen ist damit längst keine rein bildungspolitische Frage mehr. Sie ist zu einem symbolpolitischen Instrument geworden, das von der FPÖ genutzt wird, um ihre Agenda zu stärken und Wähler zu mobilisieren. Während viele Eltern den Erhalt der Muttersprache als Schlüssel zur Chancengerechtigkeit sehen, droht das Thema zunehmend zu einem Ventil für Frustration und Angst zu werden. Damit steht Österreich beispielhaft für eine Entwicklung, die in ganz Europa zu beobachten ist: Der Alltag von Minderheiten wird politisch aufgeladen, um Mehrheiten zu mobilisieren.


















