Meinung
WELT
6 Min. Lesezeit
Ein neues Kapitel der Sicherheitspolitik in Deutschland
Deutschland richtet seine Verteidigungspolitik neu aus. Die Wehrdienstreform, steigende Truppenstärken und die wachsende Bedeutung internationaler Partnerschaften zeigen: Die europäische Sicherheitsordnung steht vor einem grundsätzlichen Wandel.
Ein neues Kapitel der Sicherheitspolitik in Deutschland
Ein neues Kapitel der Sicherheitspolitik in Deutschland/ Foto: dpa / DPA
14. November 2025

Seit dem Ukraine-Krieg hat die vom ehemaligen Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ eine ungeahnte Dynamik entfaltet. Die Bundeswehr, deren aktiver Personalbestand seit Jahren schrumpfte und derzeit bei rund 181.000 Soldatinnen und Soldaten liegt, soll künftig deutlich wachsen. Die derzeitige Bundesregierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz hat sich auf ein neues Wehrdienstmodell verständigt, das einen Ausbau auf bis zu 260.000 aktive Soldatinnen und Soldaten sowie rund 200.000 Reservistinnen und Reservisten vorsieht. Es ist die umfassendste Reform seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011.

Künftig sollen alle 18-Jährigen einen Fragebogen erhalten, der Motivation und Einsatzfähigkeit erfasst – für Männer verpflichtend, für Frauen freiwillig. Die Musterung kehrt in mehreren Stufen zurück und betrifft alle ab dem Jahrgang 2008. Die Bundesregierung setzt auf ein hybrides System: freiwilliger Dienst gegen attraktive Vergütung von 2.600 Euro brutto pro Monat, kombiniert mit der Möglichkeit einer „Bedarfswehrpflicht“, falls Freiwillige nicht ausreichen sollten. Der Bundestag müsste darüber im Ernstfall gesondert entscheiden; ein Automatismus ist ausdrücklich ausgeschlossen.

Es geht also nicht nur um eine Modernisierung der Personalstruktur, sondern um eine grundlegende sicherheitspolitische Neuorientierung, die Deutschland wieder zu einem echten Pfeiler der NATO machen soll.

Wandel der Verteidigungspolitik

Über Jahrzehnte hinweg war die Bundeswehr in Berlin vor allem als außenpolitisches Instrument gedacht – eine Armee, die internationale Missionen unterstützen, aber kaum die Rolle eines tragenden Pfeilers europäischer Sicherheit übernehmen sollte. Nach dem Ende des Kalten Krieges setzte sich die Annahme durch, dass eine konventionelle Bedrohung in Europa dauerhaft gebannt sei. Diese strategische Selbstgewissheit führte dazu, dass die Landes- und Bündnisverteidigung systematisch vernachlässigt wurde, während Russland politisch verklärt und wirtschaftlich umarmt wurde. Ausdruck dieser Denkweise war Angela Merkels oft zitierter Satz: „Wir wollen Sicherheit in Europa gemeinsam mit Russland gestalten, nicht gegen Russland.“ 

Der russische Angriff auf die Ukraine hat diese Grundannahmen in ihren Fundamenten erschüttert. Seither hat Deutschland seine Rolle innerhalb der NATO nicht nur angepasst, sondern substantiell ausgeweitet. Berlin beteiligt sich mit einer dauerhaft stationierten Brigade im Baltikum an der Vornepräsenz des Bündnisses, wirkt an der Luftraumüberwachung über Estland und Lettland mit, unterstützt den Schutz kritischer Infrastruktur in der Ostsee und spielt gemeinsam mit Großbritannien eine zentrale Rolle in der Ukraine-Kontaktgruppe. All dies zeigt: Deutschland ist – ob aus bewusster strategischer Entscheidung oder unter geopolitischem Druck – zu einem militärischen Schlüsselakteur Europas geworden.

Neue Botschaft der USA: Europa muss sich selbst verteidigen

Mindestens ebenso prägend wie Russlands Politik ist der strategische Rückzug der USA. Die Botschaft von US-Präsident Donald Trump an die Europäer – „Ihr müsst eure Sicherheit selbst bezahlen“ – ist längst zu einem Leitmotiv der US-Politik geworden. Seine wiederholten Drohungen, den Beistand für NATO-Partner von deren finanziellen Beiträgen abhängig zu machen, und seine harschen Bemerkungen gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj haben die transatlantischen Gewissheiten erschüttert.

Für Deutschland bedeutet dies: Sicherheit kann nicht mehr einfach in Washington bestellt werden. Die neue Wehrdienstreform ist daher auch eine Antwort auf die geopolitische Realität, dass Europa strategisch eigenständiger werden muss – ob es dazu bereit ist oder nicht.

„Willst du Frieden, bereite den Krieg vor?“

Befürworter der Aufrüstung berufen sich gerne auf den römischen Leitsatz „Si vis pacem, para bellum.“ Doch die moderne Kriegsführung hat mit römischer Machtprojektion wenig gemein. Die Ukraine zeigt: Entscheidend sind Präzisionswaffen, Drohnen, elektronische Kriegsführung, Cyberkapazitäten und Logistik – nicht allein die Kopfzahl der Soldatinnen.

Auch in Europa klaffen die sicherheitspolitischen Lücken weniger bei der Truppenstärke, sondern bei der Munitionsproduktion, der Verteidigungsindustrie, der Digitalisierung und den gemeinsamen Entscheidungsmechanismen. Zwar erreicht Deutschland 2024 mit rund 71 Milliarden Euro Verteidigungsausgaben erstmals wieder das Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Doch Experten betonen, dass Europa bis 2030 seine Ausgaben um mindestens 50 Prozent erhöhen müsste, um glaubwürdig abschrecken zu können.

Mehr Soldaten und Soldatinnen sind also nicht automatisch mehr Sicherheit. Entscheidend ist, was diese Truppen können – und ob die strategische Architektur in Europa dem 21. Jahrhundert gewachsen ist.

Deutschlands Rolle in der NATO

Der Einfluss Deutschlands innerhalb der NATO ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Die militärische Rückversicherung für die baltischen Staaten, die logistischen Korridore über Polen und Litauen, die Marineoperationen in der Ostsee und die Koordination der Ukraine-Hilfen machen Berlin unübersehbar zum zentralen europäischen Akteur.

Doch diese Rolle bringt Verantwortung mit sich. Die Frage „Wird Deutschland wieder eine Militärmacht?“ greift zu kurz. Die eigentliche Frage lautet: Kann Europa seine Verteidigung langfristig garantieren, ohne die politische Volatilität der USA dauerhaft mitzudenken? Die Antwort, die Berlin zunehmend gibt, ist klar: Deutschland will mehr sicherheitspolitisches Gewicht tragen.

Die strategische Bedeutung von Türkiye für Europa und Deutschland

Während Europa über Aufrüstung, Abschreckung und Autonomie diskutiert, gerät ein unverzichtbarer Partner häufig aus dem Blick: Türkiye. Als zweitgrößte Armee der NATO ist Türkiye sicherheitspolitisch für Europa weit relevanter, als viele westliche Debatten es anerkennen wollen. Ob im Schwarzen Meer, in den Balkanregionen, im Kaukasus oder im östlichen Mittelmeer – die Sicherheitsinteressen der EU und Türkiye sind enger miteinander verwoben, als es die politische Rhetorik oft vermuten lässt.

Für Deutschland bedeutet das: Eine glaubwürdige Sicherheitsarchitektur braucht ein stabiles, strategisch gefestigtes Verhältnis zu Ankara. Die Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie, gemeinsame NATO-Initiativen, Terrorismusbekämpfung, regionale Krisenmanagementstrukturen und Energie- wie Infrastrukturfragen bilden die Basis einer Partnerschaft, ohne die Europa seine sicherheitspolitischen Ziele kaum erreichen kann. Eine europäische „Sicherheitsautonomie“, die Türkiye ignoriert, bleibt eine Illusion.

Sicherheit neu denken

Deutschlands neue Wehrdienstreform markiert zweifellos einen historischen Wendepunkt – und sie zeigt, dass Europa seine sicherheitspolitischen Gewissheiten neu ordnen muss. Die Erhöhung der Truppenstärke ist dabei ein notwendiger Schritt, aber längst nicht der entscheidende. Nachhaltige Sicherheit entsteht nicht allein durch mehr Soldatinnen und Soldaten, sondern durch strategische Partnerschaften, politische Abstimmung und eine kluge Priorisierung von Ressourcen. Gerade in einer Zeit, in der geopolitische Spannungen wachsen und globale Machtverschiebungen neue Risiken erzeugen, wird die Qualität der Kooperation zu Europas zentraler Stärke.

Türkiye spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Als NATO-Partner, regionale Ordnungsmacht und Brücke zwischen mehreren geopolitischen Räumen ist Türkiye unverzichtbar für eine stabile europäische Sicherheitsarchitektur. Wenn Berlin und Ankara ihre Zusammenarbeit vertiefen, stärkt dies nicht nur die Verteidigungsfähigkeit Europas, sondern auch seine Fähigkeit, Krisen diplomatisch zu bewältigen. Europas Sicherheit beginnt eben nicht nur in Brüssel oder Berlin, sondern ebenso in Ankara, am Schwarzen Meer und im östlichen Mittelmeer.

Am Ende gilt: Mehr Personal kann sinnvoll sein – doch echte Sicherheit entsteht erst durch eine vernetzte, ausgewogene und realistische Strategie. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Europa die Kraft findet, diese Chance zu nutzen und seine Zukunft selbstbewusst und gemeinsam zu gestalten.