Seit dem Zeitalter der Aufklärung definiert sich der Westen als Vorreiter von Freiheit, Vernunft, Menschenrechten und Demokratie. Diese Definition hat eine Wahrnehmung von Überlegenheit geschaffen, die in die mentale Landkarte nicht nur westlicher Gesellschaften, sondern der ganzen Welt eingebrannt ist. Westliche Staaten kritisieren einerseits Gesellschaften außerhalb ihrer eigenen als nicht ausreichend „frei“ oder „demokratisch“ und nutzen andererseits die Rhetorik der Menschenrechte als Legitimationsgrundlage für ihre politischen und militärischen Interventionen.
Die genannten westlichen Überlegenheitsansprüche zeigen sich auch stark im Bereich Kultur und Kunst. Kunst wurde akzeptiert, insofern sie instrumentalisiert werden konnte und entwickelte sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem ideologischen Werkzeug. Konkret nutzten die USA im Kalten Krieg Kunst als strategisches Propagandamittel im kulturellen Krieg gegen die ehemalige Sowjetunion. Die Unterstützung des Abstrakten Expressionismus durch den US-Geheimdienst CIA zielte darauf ab, das Thema der „freien Meinungsäußerung“ in den Vordergrund zu stellen und die USA als „Land der freien Individuen“ darzustellen, während die Sowjetunion als „Symbol kultureller Unterdrückung“ positioniert werden sollte.
Wenn Kritik zu „Antisemitismus“ wird
Eine ähnliche Situation erleben wir heute in anderer Form: Nachdem das palästinensische Volk unter Führung der Hamas am 7. Oktober 2023 militärisch auf die jahrzehntelange Praxis von Belagerung, Embargos und wiederholten brutalen militärischen Angriffen reagierte, wurden in Deutschland zahlreiche Künstler, Schriftsteller und Kulturschaffende mit propalästinensischen Positionen des Antisemitismus beschuldigt und sanktioniert. Deutschland, das als eines der Länder gilt, in denen die Meinungsfreiheit am weitesten verteidigt wird, hat in diesem Prozess die Grenzen des Begriffs „Freiheit“ erneut zur Diskussion gestellt.
Der Kampf gegen Antisemitismus ist historisch gesehen in Deutschland zweifellos ein äußerst sensibles und wichtiges Thema. Zahlreichen Kritikern zufolge ist diese legitime Sensibilität jedoch in jüngster Zeit zunehmend zu einem Mittel geworden, das die Tragödien der Gaza-Bewohner unsichtbar macht und die Stimmen, die sie verteidigen, unterdrückt. Jede Kritik an der israelischen Staatspolitik wird immer häufiger mit „Judenfeindlichkeit“ und Antisemitismus gleichgesetzt. Dadurch werden nicht nur palästinensische Künstler, sondern auch einige Juden, die gegen das zionistische Besatzungs-, Sanktions- und Gewaltregime Israels sind, sowie sie unterstützende Intellektuelle zu „Systemgegnern“ erklärt. Die Bemühung, Antisemitismus zu vermeiden, scheint die deutschen Behörden in einen antipalästinensischen Kurs gedrängt zu haben. Diese Haltung blieb bestehen, selbst nachdem der Internationale Gerichtshof – dem Deutschland als Vertragsstaat angehört – in einer vorläufigen Entscheidung vor einem möglichen Völkermordverfahren warnte.
Wenn Kunst politisch unerwünscht ist
In den vergangenen zwei Jahren wurden in Deutschland zahlreiche künstlerische Projekte mit palästinensischem Bezug oder kritischen Positionen zu Israel abgesagt oder sanktioniert. Die jüdische Künstlerin Candice Breitz verlor ihre Ausstellung in Saarbrücken, weil sie öffentlich auf das Leid in Gaza hinwies und die deutsche Politik kritisierte. Die Stiftung, die ihr Antisemitismus vorwarf, wurde von Breitz selbst als „zutiefst antisemitisch“ zurückgewiesen.
Die palästinensische Autorin Adania Shibli wurde von der geplanten Preisverleihung ihres international ausgezeichneten Romans „Eine Nebensache“ auf der Frankfurter Buchmesse ausgeschlossen – ein Schritt, den weltweit über 600 Kulturschaffende verurteilten. Der Staatssender ARD nahm den preisgekrönten palästinensischen Film Wajib aus dem Programm. Der Fotograf und Kurator Shahidul Alam wurde wegen propalästinensischer Äußerungen aus der Biennale für aktuelle Fotografie ausgeschlossen.
Und die Ausstellung des Fotografen Rafael Malik über muslimisches Leben in Berlin wurde abgesetzt, weil das Museum „ohne Gegenposition“ keine Darstellung muslimischen Lebens zeigen wollte. Diese Fälle verdeutlichen ein breiteres Klima, in dem palästinensische Perspektiven systematisch marginalisiert und kritische Stimmen unter dem Vorwurf des Antisemitismus zum Schweigen gebracht werden.
Kein neues Phänomen
Obwohl die genannten Beispiele den Eindruck erwecken könnten, dass die Kunstfreiheit in Deutschland erst in den letzten zwei Jahren auf Eis gelegt wurde, macht ein anderes Verbotsbeispiel aus dem Jahr 2018 deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Das Konzert der schottischen Alternativ-Musikgruppe Young Fathers, die zum Ruhrtriennale Festival vom 18. August bis 30. September 2018 eingeladen war, wurde vom Festival-Komitee abgesagt. Stefanie Carp, eine der künstlerischen Leiterinnen des Festivals, begründete die Absage damit, dass die Gruppe keine Distanz zur BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen die israelische Besatzung) gezeigt habe. Obwohl das Festival-Komitee aufgrund heftiger Reaktionen von Kunstliebhabern die Einladung erneut aussprach, lehnte die Gruppe Young Fathers die Einladung konsequent ab.
Wie dieses letzte Beispiel zeigt, ist das Kernproblem für Deutschland nicht die Kunstfreiheit. Die Interessen des deutschen Staates und die Interessen Israels, die von den Spitzenpolitikern Deutschlands unzählige Male als Staatsraison bezeichnet wurden, stehen über allem.
Freiheit, die keine ist
Das daraus resultierende Bild ist widersprüchlich: Im kulturellen Diskurs des Westens existieren „Freiheit“ und „Kunstfreiheit“ nur innerhalb bestimmter Grenzen. Überschreitet die kritische Stimme des Künstlers den vom politischen Rahmen gezogenen Spielraum, wird sie nicht mehr als „Freiheit“, sondern als „Bedrohung“ wahrgenommen. Ähnlich wie die kulturelle Propaganda, die die CIA im Kalten Krieg unterstützte, instrumentalisiert das heutige Deutschland Kunst als Werkzeug ideologischer Gefolgschaft. Der Unterschied: Damals wurde sie im Namen der „Freiheit“ unterstützt, heute wird sie im Namen der „Freiheit“ verboten.
Die Kunstfreiheit in Deutschland funktioniert jetzt nach dieser Formel: Du bist frei, solange du den Völkermord in Gaza ignorierst und die israelische Politik nicht kritisierst. Überschreitest du die Grenze – selbst wenn du Jude bist – wirst du als „Antisemit“ gebrandmarkt und zum Schweigen gebracht. Dies offenbart den wohl deutlichsten Zerfall der westlichen Vorstellung von „künstlerischer Freiheit“ im 21. Jahrhundert.















