Israels Völkermord: Schweigen und Selbstzensur in deutschen Hörsälen
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Israels Völkermord: Schweigen und Selbstzensur in deutschen HörsälenWie frei ist die Wissenschaft noch, wenn Kritik an Israels Politik Karrieren gefährdet? Der Umgang mit pro-palästinensischen Stimmen wird zum Prüfstein der deutschen Demokratie.
Die Aufschrift „Long Live Palestine“ steht auf einem Banner bei einem Pro-Palästina-Camp an der Leibniz Universität Hannover. / Foto: DPA / DPA
9. Oktober 2025

Seit dem 7. Oktober 2023 ist unteranderem auch die Frage der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland in den Fokus geraten. Zahlreiche Forschende, insbesondere jene, die sich in irgendeiner Form pro-palästinensisch äußern oder kritisch zur israelischen Regierungspolitik positionieren, sehen sich zunehmendem Druck, Anfeindungen und beruflichen Risiken ausgesetzt. Die Grundfrage lautet: Wie demokratisch ist eine Gesellschaft, in der selbst Intellektuelle und Wissenschaftler ihre Meinung aus Angst um ihre Karriere nicht mehr frei äußern können?

Selbstzensur und Druck auf Forschende

Aktuelle Studien zeigen, dass ein großer Teil der Wissenschaftler mit Arbeitsbezug zum Nahen Osten in Deutschland über Selbstzensur berichtet. Viele vermeiden es, ihre Position offen zu äußern, da sie Sanktionen, Fördermittelverlust oder Reputationsschäden fürchten. Besonders junge Wissenschaftler sind betroffen, deren berufliche Zukunft stark von Netzwerken, Projektförderungen und institutioneller Unterstützung abhängt. Damit entsteht ein Klima der Angst, in dem kritische Stimmen systematisch verstummen.

Eine aktuelle Erhebung der Freien Universität Berlin verdeutlicht diese Entwicklung: Knapp 85 Prozent der befragten Wissenschaftler gaben an, die Wissenschaftsfreiheit seit dem 7. Oktober 2023  als bedroht wahrzunehmen. Mehr als drei Viertel erklärten zudem, sich insbesondere bei Israel-bezogenen Themen zurückzuhalten. Selbstzensur zeige sich demnach nicht nur in öffentlichen Formaten oder Medienbeiträgen, sondern auch innerhalb des akademischen Kollegiums.

Als Hauptgründe nannten die Befragten die Angst vor Missverständnissen, Anfeindungen und beruflichen Konsequenzen. Rund elf Prozent jener, die sich häufig selbst zensieren, berichteten von Antisemitismusvorwürfen, ebenso viele von Hassrede oder Drohungen im Internet. Besonders betroffen seien laut der Studie Nachwuchswissenschaftler wie Doktoranden, die aus Sorge um ihre Karriere und Fördermöglichkeiten besonders vorsichtig agieren.

Die Befragung umfasste Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Bereichen wie Arabistik, Islamwissenschaft, Kulturwissenschaft, Area Studies und Politikwissenschaft, die an deutschen Universitäten, außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie Think- und Do-Tanks tätig sind. Trotz methodischer Einschränkungen sehen die Autoren in den Ergebnissen einen deutlichen Hinweis auf eine besorgniserregende Verschiebung im wissenschaftlichen Klima Deutschlands: Die Wahrnehmung von Einschränkungen und die wachsende Praxis der Selbstzensur deuten auf strukturelle Spannungen hin, die die Freiheit wissenschaftlicher Arbeit zunehmend untergraben.

Unterstützung für Palästina wächst auch in der Bevölkerung

Deutschland spielt in dieser Entwicklung eine zentrale Rolle. Die deutsche Politik positioniert sich seit Jahrzehnten als bedingungslos solidarisch mit Israel. Diese Haltung, historisch geprägt durch die deutsche Verantwortung für den Holocaust, hat dazu geführt, dass jede Kritik an Israels Politik schnell als antisemitisch markiert wird. Damit verschiebt sich der Diskursraum: Selbst akademisch fundierte, menschenrechtsorientierte Kritik gilt als verdächtig oder „problematisch“. Für Intellektuelle bedeutet das, dass eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt kaum möglich ist, ohne berufliche Nachteile zu riskieren.

Gleichzeitig zeichnet sich innerhalb der deutschen Bevölkerung ein deutlicher Wandel ab. Jüngste Umfragen zeigen, dass eine wachsende Mehrheit Israels Vorgehen im Gazastreifen kritisch bewertet: Rund 62 Prozent der Befragten bezeichnen die militärischen Aktionen als Völkermord. Diese Einschätzung findet sich über Parteigrenzen hinweg – sowohl Wählerinnen und Wähler der CDU/CSU als auch der SPD teilen mehrheitlich diese Auffassung. Auch das allgemeine Meinungsbild hat sich stark verschoben: Zwei Drittel der Deutschen äußern mittlerweile eine negative oder eher negative Haltung gegenüber Israel, während nur 19 Prozent positive Ansichten vertreten.

Parallel dazu wächst die Unterstützung für die Anerkennung eines palästinensischen Staates. Obwohl die Bundesregierung – im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Belgien, Portugal oder Malta – an ihrer ablehnenden Haltung festhält, sprechen sich inzwischen 44 Prozent der Deutschen für eine Anerkennung Palästinas aus, während lediglich 23 Prozent dagegen sind. Diese Diskrepanz zwischen öffentlicher Meinung und offizieller Politik verdeutlicht, dass sich in der deutschen Gesellschaft zunehmend ein Bewusstsein für die palästinensische Perspektive und die humanitären Folgen des Krieges etabliert.

Demokratische Leitlinien im Widerspruch

Dieser Zustand steht im klaren Widerspruch zu den Prinzipien der Aufklärung, auf die sich die deutsche Demokratie beruft. Seit Kant und der Forderung nach „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ gilt die freie Meinungsäußerung als Fundament der demokratischen Gesellschaft. Universitäten und Forschungseinrichtungen sollten Orte sein, an denen kritische Reflexion, Kontroversen und Debatten möglich sind – auch wenn sie unbequem für Staat und Politik erscheinen. Wird dieser Grundsatz aufgegeben, verliert die Demokratie ihre innere Substanz.

Ein Blick in die USA zeigt, wohin diese Entwicklung führen kann. Dort hat der Gaza-Krieg tiefgreifende Folgen für die akademische Freiheit: Über 80 Prozent der Nahost-Forschenden berichten laut aktuellen Studien von erzwungener Selbstzensur. Unter der Trump-Regierung wurde der Kampf gegen Antisemitismus auf dem Campus zunehmend politisch instrumentalisiert, um kritische Wissenschaftler zu sanktionieren oder ganze Universitäten unter Beobachtung zu stellen.

Was in den USA scharf kritisiert wurde, wiederholt sich inzwischen auch in Deutschland – und damit begeht Deutschland dieselben Fehler. Während deutsche Spitzenpolitiker darüber nachdenken, von Zensur betroffene US-Forscher anzuwerben, herrscht hier längst ein vergleichbares Klima der Angst. Kritik an der israelischen Politik wird mit Karriererisiken verknüpft, palästinasolidarische Proteste werden zum Vorwand, Hochschulautonomie einzuschränken. Der deutliche Absturz Deutschlands im Academic Freedom Index zeigt, dass Maßnahmen wie das sogenannte #Fördergate, zahlreiche Veranstaltungsabsagen und strafrechtliche Verfolgungen von Studierenden wegen Campusdemonstrationen nicht nur Einzelfälle sind, sondern Ausdruck einer strukturellen Verschiebung.

Freiheit der Wissenschaft als Prüfstein der Demokratie

Wenn Wissenschaftler ihre Stimmen zurückhalten, leidet nicht nur die akademische Freiheit, sondern auch die demokratische Kultur insgesamt. Die Universität wird so von einem Ort der freien Erkenntnis zu einem Raum politisch gelenkter Anpassung. Diese Entwicklung hat weitreichende Folgen: Sie schwächt die internationale Glaubwürdigkeit Deutschlands als Demokratie, untergräbt die wissenschaftliche Integrität und führt letztlich zu einer Entfremdung zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Staat.

Die Debatte um Wissenschaftsfreiheit im Kontext des Gaza-Kriegs ist längst mehr als eine Frage akademischer Selbstzensur – sie ist ein Spiegel des demokratischen Selbstverständnisses Deutschlands. Wo Angst, politische Loyalität und moralische Tabus den freien Diskurs ersetzen, verliert die Demokratie ihren inneren Kompass. Die wachsende Kluft zwischen öffentlicher Meinung, die zunehmend Solidarität mit Palästina zeigt, und einer Politik, die weiterhin an einseitigen Narrativen festhält, offenbart ein tiefes Spannungsverhältnis.

Wenn die Freiheit der Wissenschaft eingeschränkt wird, um politische Deutungshoheit zu sichern, steht nicht nur die akademische Integrität, sondern auch die demokratische Kultur selbst auf dem Spiel. Eine offene, kritische und pluralistische Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt wäre daher nicht nur ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit – sie wäre ein Prüfstein für die Reife der deutschen Demokratie.

QUELLE:TRT Deutsch