„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“. So lautet ein Zitat, das dem US-Politiker Hiram Johnson (1866-1945) zugeschrieben wird. Diese Feststellung ist aktuell wie nie zuvor, denn die Desinformation hat in der Welt von heute wie kaum in früheren Zeiten Hochkonjunktur.
Die Angst, in Deutschland auf der falschen Seite zu stehen, ist kein neues Phänomen, doch seit dem 7. Oktober 2023 hat sie eine neue, bedrohliche Qualität erreicht. Sie lähmt die öffentliche Debatte und führt dazu, dass immer weniger Menschen ihre Meinung frei äußern. Vor allem Journalisten geraten unter Druck: Die Sorge, als Antisemit gebrandmarkt zu werden oder berufliche Konsequenzen zu fürchten, hält viele davon ab, die israelische Politik offen zu kritisieren. Eine Ausnahme bilden jene, die selbst zionistische Überzeugungen vertreten oder – wie bei einem großen Medienkonzern üblich – sich vertraglich zu einer israelfreundlichen Berichterstattung verpflichten müssen. Gerade dieser Konzern steht ihrerseits in der Kritik: Medienberichten zufolge soll er nicht nur israelische Desinformationskampagnen unterstützen, sondern auch von illegalen Siedlungsaktivitäten profitieren.
Meinungsfreiheit auf dem Prüfstand
Während uns die Bilder aus Gaza erschüttern, breitet sich hierzulande eine gespenstische Stille aus. Diese Stille speist sich nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Angst. Eine neue Studie der FU Berlin liefert alarmierende Belege: 85 Prozent der Nahost-Expertinnen und -Experten sehen ihre wissenschaftliche Freiheit bedroht, drei Viertel üben bereits Selbstzensur. Dies ist kein akademisches Randphänomen, sondern Symptom eines Systemversagens.
Das „Klima der Vorsicht“ herrscht längst in der gesamten Gesellschaft. In Redaktionen, Büros, im Sportverein, auf Schulhöfen und bei Familienfeiern schlucken Menschen ihre Worte aus Furcht vor beruflichen Konsequenzen oder sozialer Ächtung. Wer israelisches Handeln in Gaza offen beim Namen nennt – viele sprechen von Völkermord – oder Solidarität mit den Palästinensern äußert, riskiert viel: Öffentliche Anfeindung, berufliche Nachteile, der Verlust von Fördermitteln. Die Palette der befürchteten Konsequenzen ist lang und existenzbedrohend.
Dabei entlarvt die Studie eine gefährliche Vereinfachung: Die zum Schweigen gebrachten Stimmen vertreten keineswegs extreme Positionen. Über 90 Prozent befürworten einen Waffenstillstand, mehr als 80 Prozent lehnen einen Israel-Boykott ab. Es ist die differenzierte, menschenrechtlich fundierte Haltung, die erstickt wird. Die Frage ist: Wollen wir eine Gesellschaft, in der Angst den Diskurs lähmt, oder eine, die auch schwierige Debatten aushält?
Aggressiver Druck auf Medienschaffende: Die Angst hinter den Schlagzeilen
Diese Selbstzensur und Angst ist nicht nur in der Wissenschaft vorhanden. Vor allem in den Nachrichtenstudios und Redaktionen herrscht sie vor. Ein beunruhigendes Bild zeichnet Katharina Weiß von Reporter ohne Grenzen im Gespräch mit der taz. Ihre Recherche unter dutzenden Medienschaffenden offenbart ein „Klima der Angst in Redaktionen“. Diese Atmosphäre, die kritische Berichterstattung zum Krieg in Gaza systematisch erstickt, hat autoritäre Züge.
Die Befunde sind eindeutig: Erfahrene Reporter berichteten, dass ihre Artikelvorschläge zur israelischen Kriegsführung „immer wieder abgelehnt“ würden. Es herrsche eine „Dauerprüfung“ ihrer Beiträge, wie sie sie in ihrer Karriere bei keinem anderen Thema erlebt hätten. Palästinensische Perspektiven würden auf eine Weise hinterfragt und Quellenchecks unterzogen, die bei Gesprächspartnern aus anderen Konfliktregionen undenkbar wären. Der Grund? Weiß nennt eine „große Furcht in den Redaktionen, eines israelbezogenen Antisemitismus bezichtigt zu werden.“
Die Folge ist eine tiefgreifende Selbstzensur. Wie Weiß darlegt, umgehen Pressevertreter bestimmte Themen bewusst, manche befürchten sogar einen Jobverlust. Dieses Ausweichen entspringt keiner professionellen Abwägung, sondern ist eine defensive Reaktion auf massiven Druck. Dieser wird maßgeblich durch einen penetranten Lobbyismus für israelische Interessen befeuert, wie Interventionen der „israelischen Botschaft“ oder der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft“ bei Chefredaktionen belegen. Zu den exponierten Akteuren dieses Netzwerks zählen außerdem Persönlichkeiten wie der Grünen-Politiker Volker Beck, der Aktivist Tobias Huch sowie zionistische Identitäre mit mutmaßlich muslimischem Hintergrund. Vor diesem Hintergrund ist der massive Glaubwürdigkeitsverlust der Medien in der Nahost-Berichterstattung eine zwangsläufige Konsequenz.
Das verlorene Vertrauen: Wie deutsche Medien im Gaza-Krieg versagen
Bereits 2024 attestierten 48 Prozent der Bundesbürger in einer Infratest-Dimap-Umfrage der Berichterstattung zum Gaza-Krieg wenig oder gar kein Vertrauen. Ein vernichtendes Urteil für eine Medienlandschaft, die ihrer Kernaufgabe, ausgewogen, kritisch und unabhängig zu informieren, offenkundig nicht nachkommt. Diese Glaubwürdigkeitskrise ist hausgemacht: Wie die Studie zeigt, warfen 31 Prozent der Befragten den deutschen Medien vor, zu sehr Partei für Israel zu ergreifen. Dieses Bild bestätigt ein Blick in die Talkshows des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: In ARD-Sendungen kamen zwischen Oktober 2023 und August 2024 lediglich drei Gäste mit palästinensischem Hintergrund zu Wort, israelische Perspektiven waren deutlich überrepräsentiert. Eine Schieflage, die symptomatisch ist für ein grundlegendes Problem.
Eine Studie der Universitäten Mainz und Düsseldorf, das im Mai vorgestellt wurde, bestätigt, diese Schräglage: Das Vertrauen in die Nahost-Berichterstattung ist auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Nur 27 Prozent der Menschen schenken den Darstellungen zum Krieg in Gaza noch Glauben. Dieses massive Misstrauen ist eine direkte Quittung für eine Berichterstattung, die israelische Narrative zu oft unkritisch übernimmt und palästinensische Perspektiven weitestgehend ausblendet. Die Menschen spüren die Lücke zwischen der medialen Darstellung und der dokumentierten Realität. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust ist ein Warnzeichen für den deutschen Journalismus, der seine Grundprinzipien der Ausgewogenheit und kritischen Distanz dringend wiederfinden muss.
Wie der Journalist Daniel Bax in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ analysiert, werfen viele deutsche Medien Grundlagen des journalistischen Handwerks über Bord. Statt israelische Narrative kritisch zu hinterfragen, werden sie oft ungeprüft übernommen. Bax bringt es auf den Punkt: „Sie empören sich eher über Uni-Proteste in den USA und in Deutschland (…) als über den Krieg in Gaza. Statt ihre Leserinnen und Leser darüber zu informieren, was dort passiert, scheinen viele das Bedürfnis zu haben, Israel vor scheinbar ungerechtfertigten Anschuldigungen in Schutz zu nehmen.“
Die Folge sei eine verzerrte Wahrnehmung. Während internationale Medien wie die „New York Times“ oder „The Guardian“ mit datengetriebenen Recherchen die grausame Realität in Gaza zu dokumentieren versuchten, dominierten hierzulande Headlines, die israelische Militärbehauptungen reproduzieren. Die schockierende Geschichte des sechsjährigen Mädchens Hind Rajab, die in den USA zur Symbolfigur geworden sei, sei in Deutschland kaum bekannt. Stattdessen würden unbelegte Vorwürfe, wie jene gegen UNRWA-Mitarbeiter, als „Erkenntnisse“ präsentiert, die sich später als nicht haltbar erwiesen hätten. Dieses Versagen habe Konsequenzen. Jeder unkritisch, oftmals auch ungeprüft übernommene Bericht über angebliche „sichere Korridore“, „menschliche Schutzschilde“ oder „Waffenlager“ kostet Vertrauen. Die Menschen spürten die Diskrepanz zwischen den Bildern, die sie in sozialen Netzwerken sehen, und der Darstellung in traditionellen Medien. Sie wendeten sich ab, was, zu einer gefährlichen Fragmentierung der Gesellschaft führen könne.
Kein Vertrauen ohne Kurskorrektur
Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, muss der deutsche Journalismus mutiger werden: Statt unbequeme Themen zu scheuen, muss er dokumentierte Kriegsverbrechen benennen, unabhängige Quellen wie Menschenrechtsorganisationen ernst nehmen und vor allem die palästinensische Leidenserfahrung sichtbar machen. Anstatt stets dieselben „Experten“ zu befragen, braucht es die Perspektiven kritischer Wissenschaftler und Journalisten vor Ort. Denn die Aufgabe des Journalismus ist es, unbequeme Wahrheiten aufzuzeigen, auch dann, wenn sie im Widerspruch zu vorherrschenden politischen Narrativen stehen. Davon sind wir meilenweit entfernt. Auch deshalb, weil die israelische Regierung bewusst Journalisten ermorden lässt und die „Wahrheit als Bedrohung“ betrachtet.
Statt dieser notwendigen Courage zeigt sich jedoch oft das Gegenteil. Es ist ein Armutszeugnis: Anstatt ihrer Kontrollaufgabe gerecht zu werden, ducken sich viele Redaktionen weg. Die Folge ist eine verzerrte Öffentlichkeit und ein massiver Vertrauensverlust. Doch wenn die Wächter der Demokratie schweigen, wer bleibt dann, um Macht zu kontrollieren?
Gegen die Angst hilft nur eine schonungslose interne Aufarbeitung. Nur so lassen sich künftige Fehler vermeiden. Dies erfordert echte Diversität. Eine Diversität nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern als gelebte Praxis. Es müssen endlich jene Stimmen Gehör finden, die fremdsprachige Quellen auswerten und nicht-deutsche, nicht-eurozentrische Perspektiven in die Debatte tragen. Erst diese Vielfalt der Blickwinkel kann die Grundlage für eine vertrauenswürdige Berichterstattung sein. Solange jedoch Angst regiert, bleibt die freie Meinungsbildung auf der Strecke – und damit das Fundament einer jeden Demokratie.
















