Von Selenay Keskin
Deutschland präsentiert sich gern als sozial, stabil und wirtschaftlich stark. Doch für über drei Millionen Kinder ist dieses Bild weit entfernt von ihrem Alltag. Sie wachsen in Haushalten auf, in denen das Geld für das Nötigste fehlt – für gesundes Essen, verlässliche Wärme, Schulmaterial oder Freizeit. 2023 lebten 2,1 Millionen Kinder in armutsgefährdeten Familien, ein Jahr später stieg die Quote laut Statistischem Bundesamt auf 15,2 Prozent. UNICEF schätzt, dass über eine Million Kinder in materieller Deprivation leben – ihnen fehlen somit grundlegende Voraussetzungen wie angemessene Kleidung oder eine beheizte Wohnung. Addiert man den EU-Indikator „Armut oder soziale Ausgrenzung“, betrifft dies 23,9 Prozent aller Minderjährigen.
Arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. 2024 lag diese Schwelle bei 1.381 Euro für Alleinlebende, für eine vierköpfige Familie bei rund 2.900 Euro netto. Hohe Mieten, steigende Energiepreise und regionale Unterschiede verschärfen den Druck – oft unsichtbar, aber für betroffene Familien täglich spürbar.
Schule als Spiegel der Ungleichheit
Besonders deutlich zeigt sich die soziale Spaltung im Klassenzimmer. Viele Eltern können Beiträge für Ausflüge, Materialien oder schulische Aktivitäten nicht stemmen – mit direkten Folgen für ihre Kinder. UNICEF warnt, dass ungleiche materielle Voraussetzungen „alle Lebensbereiche der Kinder“ beeinflussen. Fehlende Lernmaterialien, kein Geld für AGs oder Klassenfahrten, sichtbare Armut im Schulalltag: Viele Kinder erleben Ausgrenzung, vermeiden Teilhabe und entwickeln früh das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Dass Armut unmittelbar die Bildungschancen prägt, zeigen aktuelle Studien. Die IGLU-Studie 2021 belegt, dass Kinder aus armutsbetroffenen Haushalten deutlich seltener grundlegende Lesekompetenzen erreichen. Parallel berichtet das Deutsche Kinderhilfswerk, dass jedes fünfte Kind hungrig zur Schule kommt, weil Familien sich nicht ausreichend Mahlzeiten leisten können. Häufig stehen pro Kind „nicht mehr als fünf Euro am Tag“ zur Verfügung. Schule wird so nicht zum Ort des Lernens, sondern zum täglichen Kraftakt.
Wie stark Kinderarmut vererbt wird, zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamts eindrücklich: 2022 waren 37,6 Prozent der Kinder armutsgefährdet, deren Eltern nur einen niedrigen Schulabschluss besitzen. In Haushalten mit mittlerem Abschluss – abgeschlossene Ausbildung oder Abitur – sank das Risiko auf 14,5 Prozent. Am niedrigsten war es bei höherem Bildungsabschluss: nur 6,7 Prozent. Kinderarmut folgt damit klaren sozialen Strukturen – und Fehler im System pflanzen sich über Generationen fort.
Vierfach höheres Risiko bei Einwanderungsgeschichte
Besonders hoch ist das Armutsrisiko für Kinder mit Einwanderungsgeschichte. Laut aktueller EU-SILC-Auswertung waren 2024 rund 31,9 Prozent dieser Kinder armutsgefährdet – viermal so viele wie unter Gleichaltrigen ohne Einwanderungsgeschichte (7,7 Prozent). Die amtliche Statistik bringt es auf den Punkt: „Unter 18-Jährige, die selbst oder deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind, sind etwa viermal so häufig armutsgefährdet wie Gleichaltrige ohne Einwanderungsgeschichte.“ Nicht anerkannte Abschlüsse, strukturelle Diskriminierung und lange Wartezeiten auf Arbeitserlaubnisse erschweren stabile Erwerbsbiografien – mit direkten Folgen für die Kinder.
Auch Alleinerziehende tragen ein besonders hohes Risiko: 41 Prozent ihrer Kinder waren 2023 armutsgefährdet. Die Kombination aus Erwerbsarbeit, Betreuung und fehlender staatlicher Unterstützung führt schnell an die Belastungsgrenze. In Haushalten mit drei oder mehr Kindern ist fast jedes dritte betroffen.
Armut endet nicht an der Wohnungstür. Sie bestimmt Lernwege, Freizeit, Gesundheit – und das emotionale Wohlbefinden. Kinder berichten von Scham, Stress, Rückzug und Zukunftsängsten. Fehlende Ruhe zum Lernen, keine digitale Ausstattung, kein Zugang zu Sportvereinen oder kulturellen Angeboten – all das legt Bildungswege fest, bevor sie überhaupt beginnen. UNICEF formuliert es eindeutig: „Armut hat gravierende Folgen für Kinder – Chancenungleichheit gehört zu den zentralen Auswirkungen.“
Politische Verantwortung statt symbolischer Maßnahmen
Europaweit ist nahezu ein Viertel aller Minderjährigen von Armut oder Ausgrenzung bedroht. Deutschland liegt nur knapp unter dem EU-Durchschnitt – und deutlich hinter Ländern wie Slowenien, Finnland oder den Niederlanden. Der UNICEF-Bericht stellt klar: „Kinderarmut ist keine Naturgewalt – sie lässt sich politisch verändern.“
Hilfsorganisationen und Fachleute fordern seit Jahren tiefgreifende Reformen: Kinderarmut in Deutschland ist politisch verursacht – und kann politisch reduziert werden. Sie fordern seit Jahren eine Neujustierung der Familien- und Sozialpolitik: eine Kindergrundsicherung, eine realistische Neubewertung des Existenzminimums, weniger Bürokratie und mehr Investitionen in Bildung und Betreuung. Gleichzeitig machen Umfragen deutlich, dass Familien den politischen Ankündigungen wenig Glauben schenken: 76 Prozent der Eltern halten die bisherigen Maßnahmen für unzureichend.
Deutschland nennt sich gern „Land der Chancen“. Doch solange Kinder im Winter frieren, solange Schulbücher nur über Formulare und Scham finanzierbar sind, solange selbst kleine Geburtstagsgeschenke zum Luxus werden, bleibt dieses Selbstbild brüchig.
Kinder haben keine Lobby. Sie wählen nicht, schreiben keine Gesetze und sitzen in keinem Aufsichtsrat. Kinderarmut ist deshalb ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit eines Sozialstaats – und Deutschland besteht diesen Test aktuell nicht.
Ein Land, das Industrien rettet und Großprojekte finanziert, könnte längst auch seine Kinder schützen. Die Frage ist nicht, ob Deutschland es sich leisten kann, Kinderarmut zu bekämpfen – sondern warum es bislang nicht den politischen Willen dazu zeigt.
Solange das so bleibt, bleibt auch die Botschaft an Millionen Kinder bestehen: Ihr seid offiziell wichtig – aber praktisch verzichtbar.
















