Die Einigung zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat, die Importe von russischem Erdgas bis zum 1. November 2027 vollständig zu beenden, hat die Debatte über die Energieabhängigkeit der EU erneut entfacht. Ungarn und die Slowakei legten Einspruch ein – zwei Staaten, die weiterhin stark auf günstige russische Gaslieferungen angewiesen sind und erhebliche Versorgungsprobleme befürchten. Beide Regierungen kritisieren zudem die harte Sanktionslinie Brüssels und warnen vor spürbaren Preissteigerungen. Brisant ist vor allem, dass die EU das Importverbot trotz des Widerstands dieser beiden Länder durchsetzen will, obwohl solche Entscheidungen eigentlich Einstimmigkeit erfordern. Budapest hat bereits angekündigt, vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen – ein Schritt, der die Grundsatzfrage belastet, wie handlungsfähig die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU tatsächlich ist.
Dass die Union nun zu einem kompletten Gasimportverbot greift, zeigt zugleich ein anderes Problem: Auch fast vier Jahre nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist es der EU nicht gelungen, Moskau die Einnahmen aus Energieexporten spürbar zu entziehen. Zwar setzt Brüssel auf umfassende Sanktionen und militärische wie wirtschaftliche Unterstützung für Kiew, doch gerade im Sanktionsbereich blieb die Wirkung begrenzt. Im Gegenteil: Untersuchungen zeigen, dass die EU-Staaten 2024 sogar 18 Prozent mehr russisches Gas importierten als im Vorjahr. Mit 52 Milliarden Kubikmetern Gas und 15,6 Milliarden Euro, die 2024 in die russische Kriegskasse flossen, offenbart sich die strategische Inkohärenz in Brüssel besonders deutlich. Dass ein Teil dieser Lieferungen bis Ende 2024 weiterhin über die Ukraine in die EU gelangte, unterstreicht zusätzlich die widersprüchliche Energie- und Sicherheitspolitik der Union.
Europas selbstverschuldete Schwäche
Die Energiepolitik der Europäischen Union war von Beginn an von gravierenden Fehlentscheidungen geprägt. Der zentrale Fehler bestand darin, dass die EU trotz der zunehmend aggressiven Signale aus Moskau bis zum Kriegsbeginn 2022 keine ernsthaften Schritte unternahm, ihre Abhängigkeit von russischem Gas abzubauen. Im Gegenteil: Noch während Russland im Februar 2022 seinen Angriff auf die Ukraine vorbereitete, suchte die deutsche Regierung nach Wegen, die Pipeline Nord Stream 2 doch noch in Betrieb zu nehmen – und das, obwohl die USA und atlantische Partner im Vorfeld massiv davor gewarnt hatten. Zeitgleich lag die Abhängigkeit vieler EU-Staaten bei über 50 Prozent, manche bezogen nahezu ihr gesamtes Gas aus Russland. 2020 lag der russische Anteil an den Gasimporten Finnlands bei 96 Prozent, Lettlands bei 93 Prozent, Bulgariens bei 77 Prozent, Deutschlands bei 49 Prozent, Italiens bei 46 Prozent und Polens bei 40 Prozent.
Strategisch betrachtet war es ein eklatantes Fehlurteil, dass EU-Staaten, die sich auf einen geopolitischen Machtkampf mit Russland einstellten, zugleich in diesem Maße von russischer Energie abhängig blieben. Dass Länder wie Deutschland, Italien oder Frankreich – alles Staaten mit langjähriger außenpolitischer Erfahrung – diesen grundlegenden Widerspruch übersahen, wirft berechtigte Fragen auf. Hinzu kam die mangelnde Fähigkeit der EU, eine gemeinsame Energiepolitik zu formulieren. Dabei wäre es angesichts der geografischen Nähe zu energiereichen Regionen wie Nordafrika, dem östlichen Mittelmeer, dem Nahen Osten oder dem Kaukasus naheliegend gewesen, auf diversifizierte Lieferquellen zu setzen, statt Russland zur zentralen Bezugsquelle zu machen.
Doch der Aufbau entsprechender Pipeline-Infrastrukturen hätte abgestimmte europäische Strategien und eine weniger ideologisch geprägte Außenpolitik verlangt – Anforderungen, denen viele EU-Länder nicht gerecht wurden. Staaten wie Frankreich und Spanien, die aufgrund ihrer Lage ohnehin stärker auf Algerien oder andere Lieferanten setzten, sahen zudem wenig Anlass, sich aktiv an einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik zu beteiligen.
Deutschlands riskante Russlandwette
Deutschland seinerseits, das billiges Gas aus Russland bezog und dort große Investitionen tätigte, konnte offenbar nicht ahnen, dass sich die Beziehungen zu Moskau derart verschlechtern würden. Neben diesen wirtschaftlichen Gründen glaubte Berlin, das einen Konflikt mit dem nuklear bewaffneten Russland vermeiden wollte, dass es unter allen Umständen einen Weg zur Verständigung mit Moskau finden könne. Dies war auch der Grund, warum es trotz heftiger Kritik am Bau der Nord Stream 2 festhielt.
Diese Fehlkalkulation Deutschlands führte zu einer verfehlten Politik, die darauf hinauslief, die Energieabhängigkeit von Russland zu erhöhen, obwohl ein Konflikt mit diesem Land unvermeidlich näher rückte. Diese falsche Politik führte zu dramatischen Folgen, wie beispielsweise der hektischen Suche von Bundeskanzler Olaf Scholz nach alternativen Gaslieferanten vor Beginn des Winters, nachdem Russland im August 2022 beschlossen hatte, den Export von Erdgas über die Pipelines Jamal und Nord Stream nach Europa einzustellen.
Zu den Ländern, die nach dem Abdrehen der russischen Gashähne als alternative Lieferanten für Deutschland und andere europäische Staaten einsprangen, gehörten in erster Linie die USA. Die Vereinigten Staaten, die durch die Schiefergasrevolution der 2010er Jahre zu einem Nettoenergieexporteur geworden waren und neue Absatzmärkte suchten, sahen in der zwischen Russland und der EU ausgebrochenen Gaskrise eine wichtige Gelegenheit. Es ist bekannt, dass die US-Regierung hierbei nicht untätig blieb und erheblichen Druck auf die europäischen Länder ausübte, den Kauf von Erdgas aus Russland vollständig einzustellen.
Rutscht Europa in eine neue Abhängigkeit?
Es gibt sogar ernsthafte Vermutungen, dass die USA hinter den Angriffen auf die Nord Stream-Pipelines zwischen Russland und Deutschland am 26. September 2022 stehen könnten. Denn hochrangige US-Beamte haben sich gegen den Bau der Nord Stream 2-Pipeline ausgesprochen und deren Abschaffung gefordert. Dazu zählen die Äußerung von US-Präsident Joe Biden, wonach die Pipeline Nord Stream 2 im Falle eines russischen Angriffs auf die Ukraine „auf jeden Fall gestoppt“ werde, sowie die Bemerkung von Victoria Nuland, der US-Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten, die am 27. Januar 2023 in einer Senatsanhörung erklärte, sie sei „sehr froh darüber, dass Nord Stream 2 nun ein Stück Metall auf dem Meeresgrund sei“.
Die USA, die sich so stark gegen den Import von Erdgas aus Russland durch Europa ausgesprochen hatten, sind heute der größte LNG-Lieferant der EU. Im zweiten Quartal 2025 lag der Anteil der USA an den gesamten LNG-Importen der EU bei 57,7 Prozent; gefolgt von Russland mit 12,9 Prozent, Algerien mit 7,4 Prozent und Katar mit 7,1 Prozent. Im gleichen Zeitraum war Norwegen bei den über Pipelines importierten Erdgaslieferungen der EU mit einem Anteil von 50,8 Prozent der wichtigste Lieferant. Dahinter folgten Algerien mit 17,8 Prozent, das Vereinigte Königreich mit 12,1 Prozent und Russland mit 7,8 Prozent.
Es ist offensichtlich, dass der Rückgang des Anteils Russlands an den Energieimporten der EU und dessen vollständige Abschaffung bis 2027 eine große wirtschaftliche Belastung für die EU-Länder darstellt. Der im Vergleich zu russischem Gas deutlich höhere Preis für aus den USA importiertes LNG bedeutet eine zusätzliche Belastung für die europäischen Volkswirtschaften, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben, im globalen Machtkampf mitzuhalten. Während die Industrie in Deutschland darüber klagt, dass sie aufgrund der hohen Energiepreise nicht mehr mit ihren globalen Konkurrenten mithalten kann, fordert Alice Weidel, die Co-Vorsitzende der in Umfragen zur stärksten Kraft aufgestiegenen rechtspopulistischen AfD, eine Rückkehr zum Import von Erdgas aus Russland, da dieses nach wie vor am billigsten sei.
Neben dem Druck seitens der Wirtschaft und der Opposition müssen die deutsche Regierung und andere EU-Länder, die LNG aus den USA beziehen, auch darauf achten, dass in diesem Bereich keine neue Abhängigkeit gegenüber den USA entsteht. Denn Washington hat mit seiner Politik in den letzten Jahren gezeigt, dass es kein verlässlicher Partner für die EU ist. Die EU, die den Druck der Trump-Regierung in Bezug auf Zölle überwinden und sich die weitere Unterstützung Washingtons gegenüber Russland sichern wollte, hat ihre LNG-Importe aus den USA stark erhöht. Aufgrund dieser neuen Abhängigkeit könnte sie nun neben hohen Preisen auch andere Nachteile erleiden.


















