Meinung
GESELLSCHAFT
5 Min. Lesezeit
Das deutsche Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen
Zwischen Lehrermangel, fehlender frühkindlicher Förderung und sozialen Bruchlinien droht Deutschlands Bildungssystem an einen kritischen Punkt zu geraten.
Das deutsche Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen
Das deutsche Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen. / Foto: DPA
vor 4 Stunden

Es ist ein Satz, den man eigentlich nicht glauben möchte – und doch wiederholt er sich inzwischen in Grundschulen quer durchs Land: „Viele Kinder können keinen Stift halten.“ Dieser Alarmruf kommt nicht von frustrierten Einzelstimmen, sondern aus einem Brandbrief von 1.100 Lehrerinnen und Lehrern aus Hessen, die dem Kultusministerium vor wenigen Tagen eine Art Bildungs-Notstandsprotokoll übergeben haben. Was darin steht, lässt kaum Raum für Beschwichtigungen. Immer mehr Kinder beginnen die Schule, ohne schneiden oder kleben, geschweige denn ihre Schuhe binden zu können. Manche wissen nicht, wie man auf der Toilette Papier benutzt oder sich wieder anzieht. Andere verstehen einfache Arbeitsanweisungen nicht, weil ihnen sowohl die sprachlichen als auch sozialen Grundlagen fehlen.

Das Problem beginnt lange vor der Einschulung

Wer glaubt, es handle sich um isolierte Einzelfälle, irrt. Die Situation in der „Löwengruppe“ der Grundschule Sandstraße in Duisburg-Marxloh zeigt, wie tief das Problem inzwischen reicht. Dreizehn Kinder, die weder Deutsch noch ihre jeweilige Herkunftssprache sicher sprechen. Kinder, die Begriffe wie „Huhn“ oder „Ei“ nicht kennen, nicht aus Unachtsamkeit, sondern weil ihnen im Alltag kaum jemand etwas erklärt oder vorliest. Manche haben nie eine Kita besucht, weil in vielen Bundesländern schlicht kein Platz frei ist – laut dem Institut der deutschen Wirtschaft fehlen bundesweit rund 300.000 Kitplätze für unter Dreijährige.

Der Pädagoge Marcus Scholz, der im Rahmen eines Projekts der Roland Berger Stiftung mit diesen Kindern arbeitet, beschreibt es so schlicht wie erschütternd: „Wir haben Kinder, die hatten noch nie einen Stift in der Hand.“ Diese Aussage ist kein Vorwurf an die Kinder. Es ist eine Anklage gegen ein System, das den frühkindlichen Bereich über Jahre hinweg sträflich vernachlässigt hat – und nun versucht, all die Versäumnisse ab der ersten Klasse mit Lehrern, Schulpsychologen und ein paar Förderstunden aufzuwiegen.

Dass dies nicht funktionieren kann, zeigen die aktuellen IQB-Bildungstrends. Neuntklässler scheitern zunehmend an Mindeststandards in Mathematik und den Naturwissenschaften. Lehrerinnen berichten, dass immer mehr Jugendliche das Einmaleins nicht beherrschen, Texte kaum verstehen und sich nur schwer länger konzentrieren können. Der PISA-Schock von 2022 war also kein Ausrutscher – er war ein Frühwarnsignal.

Die Gründe liegen offen zutage. Familien kämpfen mit Stress, Zeitmangel und digitaler Zerstreuung. In vielen Haushalten ersetzt das Handy das Vorlesen, und die Playstation übernimmt stundenlang die Beschäftigung des Kindes. Gleichzeitig wachsen die Klassen, weil überall Lehrkräfte fehlen.

Deutschland braucht eine ehrliche Bildungsdebatte

Aber, es wäre zu einfach, die Schuld allein den Schulen oder den Familien zuzuschieben. Wer die Bildungsprobleme in Deutschland allein auf Migration zurückführt, greift deutlich zu kurz. Der IQB-Bildungstrend zeigt zwar, dass der Anteil von Schülern mit Einwanderungsgeschichte – in einigen Bundesländern sogar mehr als die Hälfte einer Jahrgangsstufe – spürbar gestiegen ist und dass damit zusätzliche sprachliche und pädagogische Herausforderungen entstehen.

Doch der Leistungsabfall betrifft längst nicht nur diese Gruppe, sondern zieht sich durch das gesamte Schulsystem. Migration ist also ein Faktor, aber eben nur einer unter vielen: fehlende Kita-Plätze, massive Personalengpässe, ungleiche Startchancen, sozialräumliche Segregation und ein verändertes familiäres Lernumfeld prägen die Situation genauso stark. Wer Migration zum alleinigen Sündenbock erklärt, verschiebt den Fokus – und übersieht die strukturellen Defizite, die seit Jahren unbehandelt bleiben.

Was wir gerade erleben, ist eine Überlagerung sozialer, ökonomischer und politischer Fehlentwicklungen. Armut, fehlende Kita-Plätze, Migration ohne ausreichende Sprachförderung, soziale Isolation in bestimmten Vierteln, digitale Überforderung, Lehrermangel – alles läuft in den Klassenzimmern zusammen, und dort wird es entladen.

Lehrerinnen und Lehrer warnen seit Jahren, dass die Grundschule nicht der Ort ist, an dem die gesamte Gesellschaft kompensiert werden kann. Wenn ein ukrainisches Kind beim Geräusch eines Flugzeugs vor Angst unter den Tisch flüchtet, braucht es Traumabegleitung, nicht nur Geduld. Wenn ein Erstklässler nicht weiß, wie man eine Jacke anzieht, liegt das nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an fehlender Anleitung. Und wenn Kinder TikTok-Sounds besser kennen als Tierlaute, ist das kein Erziehungsfehler einzelner Eltern – es ist ein Spiegel einer Gesellschaft, die inmitten von Arbeit, Migration, Digitalisierung und sozialer Fragmentierung den Blick auf das Wesentliche verloren hat.

Deutschland hat ein Gesellschaftsproblem

Deutschland hat kein Schulproblem. Deutschland hat ein Gesellschaftsproblem – und die Schulen sind lediglich der Ort, an dem dieses Problem ungeschönt sichtbar wird. Während die Welt sich mit rasantem Tempo in Richtung einer KI-getriebenen Wissensökonomie bewegt, ringt Deutschland noch immer mit Fragen, die längst beantwortet sein müssten: frühe Sprachförderung, Kita-Plätze, personelle Grundausstattung, soziale Durchlässigkeit. Die eigentliche Frage lautet daher nicht mehr, ob wir ein Bildungsproblem haben, sondern wie lange wir uns noch vormachen wollen, dass es sich ohne tiefgreifende Reformen von selbst lösen wird.

Deutschland braucht endlich eine Bildungsdebatte, die diesen Namen verdient – keinen weiteren runden Tisch, keine beschwichtigenden Formulierungen, keine politischen Placebos, die nur bis zur nächsten Wahl tragen sollen. In einer Zeit, in der künstliche Intelligenz, Automatisierung und globaler Wettbewerb ganze Volkswirtschaften neu ordnen, kann ein Land wie Deutschland es sich nicht leisten, über grundlegende Fragen frühkindlicher Bildung, sozialer Teilhabe und Lehrkräftegewinnung noch immer zu stolpern. Bildung beginnt nicht am ersten Schultag. Doch im Moment steuern wir darauf zu, eine ganze Generation in eine Zukunft zu entlassen, für die wir ihr weder das Rüstzeug noch die Orientierung mitgeben.