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Russland: Gefährliche Kriegsprophezeiungen
Aktuell häufige Prognosen vom „wahrscheinlichen“ oder „unvermeidbaren“ Krieg gegen Russland in den nächsten Jahren tragen ihren Teil zu einer Verschärfung der Eskalation in Osteuropa teil.
Russland: Gefährliche Kriegsprophezeiungen
Russland: Gefährliche Kriegsprophezeiungen / Foto: TRT Deutsch / TRT Deutsch
17. Oktober 2025

Eine „Phase 0“ bei Kriegsvorbereitungen, „Russland könnte Europa jederzeit angreifen“, Russland sei bis 2029 in der Lage, einen Angriff auf NATO-Gebiet zu wagen, ein russischer Angriff auf die NATO erfolge mit „100 Prozent Wahrscheinlichkeit“. Deutsche Politik, Presse und Offizielle überschlagen sich aktuell mit hochdramatischen Vorhersagen zu Kriegsabsichten Moskaus in Richtung Westen.  Als Dauerbeleg dient dabei die 2022 erfolgte Invasion der Ukraine, die einen bis heute andauernden, blutigen Krieg ausgelöst hat.

Doch kann man vom Überfall auf die Ukraine wirklich auf eine Kriegsabsicht des Kreml direkt gegen die NATO schließen? Außer acht gelassen wird von den Auguren, dass Putin diesen Waffengang vor allem deswegen startete, weil er aufgrund von falschen Geheimdienstinformationen irrtümlicherweise mit einer schnellen Eroberung des Nachbarlandes rechnete. Dieses ist ja von seiner Wirtschafts- und Militärkraft Russland unterlegen. Nachdem das ebenso scheiterte wie - nicht ohne westliches Mitwirken - die folgenden Friedensverhandlungen in Istanbul schwenkte Moskau erst zwangsläufig auf die Strategie eines Zermürbungskriegs ein, der bis heute andauert.

Auch dieser läuft für Moskau aktuell nicht optimal. Während russische Truppen unter hohen Verlusten gegen die ukrainische Front anrennen, sind die dadurch erzielten Geländegewinne bescheiden. Seit Juni 2024 waren es trotz Daueroffensive weniger als ein zusätzliches Prozent des ukrainischen Territoriums. Ein echter Durchbruch ist nicht in Sicht. Die russische Wirtschaft stagniert, Reserven werden aufgezehrt, etwa 60-70 Prozent des Russischen Nationalen Wohlstandsfonds wurden gegen die Ukraine schon verbrannt. Zu oft wird bei Prognosen eines russischen Angriffs auf das mächtigste Militärbündnis der Welt übersehen, dass Moskaus Außenpolitik zwar erheblich an Aggressivität gewonnen hat, aber dennoch auch dort Experten im Umfeld der Regierung existieren, die realistisch Chancen und Risiken abschätzen können.

Moskau setzt auf Umgehung statt Eskalation

Eine im Gegensatz recht erfolgreiche russische Strategie basiert geopolitisch auf der Umgehung westlicher Zwangsmaßnahmen durch die verstärkte Zusammenarbeit mit nichtwestlichen Partnern, auch zu derem eigenen Vorteil. Bodenschätze werden mit Rabatten nach Indien oder China verkauft, Sanktionen durch Importe über Zentralasien umgangen. Diese Strategie fiele in sich zusammen, wenn Russland wirklich den Waffengang direkt gegen den Westen wagen würde. Es wäre dann für diese Länder nicht mehr vorteilhaft, mit Russland weiter zu kooperieren und sich dadurch in eine direkte militärische Auseinandersetzung mit dem Westen, ja einem möglichen Weltkrieg ziehen zu lassen. Selbst das mächtige China achtet darauf und schon seine offizielle Neutralität im Ukrainekrieg. Jede direkte militärische Aktion Russlands gegen die NATO wäre ein Weg in eine echte geopolitische Isolation.

Man weiß im Umfeld des Kreml, dass jeder Waffengang direkt gegen die übermächtige NATO den eigenen Machterhalt gefährden und Russlands Reserven übersteigen würde. Der Erhalt der Macht ist aber schon seit Jahrzehnten das Hauptziel der eigenen Politik. Das gilt für die repressive Innenpolitik ebenso wie für die Ambitionen nach außen, Russland wieder „groß“ zu machen und so vor dem eigenen Volk zu glänzen. Oft im Zuge der Kriegsprophezeiungen zitierte hybride russische Aktionen gegen den Westen haben eher das Ziel, die Einigkeit der Unterstützer der Ukraine auf die Probe zu stellen, Unruhe und Angst bei diesem zu erzeugen. Das wiederum ist realistisch und erfolgreich, ein direkter Militärangriff wird es nicht sein.

Gefährliche Selbstprophezeiungen des Westens

Äußerst gefährlich für die Zukunft Europas ist es jedoch, sich aufgrund der hybriden Strategie in düsteren Prophezeiungen über einen bevorstehenden russischen NATO-Angriff zu ergehen. Der Historiker Alexei Uvarov analysierte aktuell für die exilrussische, oppositionelle Onlinezeitung Meduza Parallelen zwischen der Situation in Europa vor dem Ersten Weltkrieg und aktuell angesichts des Ukraine-Kriegs. Anlass waren Bemerkungen europäischer Beamter und Politiker im September gegenüber Politico, dass die heutige Lage an die Zeit vor diesem Kriegsausbruch erinnere.

Damals hätte, so Uvarov, die Vorstellung einer „Unvermeidbarkeit“ des Krieges es den herrschenden Kreisen ermöglicht, sich der Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen zu entziehen. Alles war scheinbar vorherbestimmt und so befolgte man lediglich den „unaufhaltsamen Lauf der Geschichte“.  Alleine der Vergleich westlicher Entscheidungsträger mit dem Vorabend eines Weltkrieges höre sich für ihn „wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung an“, während in Wirklichkeit aktuell noch Spielraum für ganz unterschiedliche Entscheidungen bestünde. Hier sieht er aktuell eine große Verantwortung der westlichen Politik, wie man sich in der Eskalation mit Russland verhalte.

Uvarov zitiert hier den Cambrigde-Professor Christopher Clark, dass die Vorstellung der Unvermeidlichkeit eines Krieges eine wichtige psychologische und politische Funktion hat. Selbst am Vorabend des Ersten Weltkrieges hätten Politiker anders handeln können und haben das nur nicht getan. Hier besteht in der Tat eine Parallele zur aktuellen westlichen Politik. Denn Thesen von einer sicheren kriegerischen Auseinandersetzung direkt mit Russland werden vor allem dort vorgebracht, wo man auch eine Verhandlungslösung mit Kompromissen persönlich oder aus Eigeninteresse ablehnt. Sie entwerten jeden Kompromissansatz.

Wie Kriegsangst Kriege wahrscheinlicher macht

Die sichere oder wahrscheinliche Erwartung eines bevorstehenden Krieges steigert die Wahrscheinlichkeit seines tatsächlichen Beginns auch auf andere Art. Diplomatische Gesten werden als Schwäche ausgelegt („Putin-Knechte“), der „vorbestimmte“ Weg blockiert jede Deeskalation. Maßnahmen zur eigenen Sicherheit und der fehlende Wunsch nach Diplomatie werden im vergifteten Klima sofort von der anderen Seite als Bedrohung wahrgenommen. Die ständige Erwartung eines Krieges macht seinen Ausbruch realistischer.

Ganz konkret zeigt sich das am jüngsten russisch-belarussischen Manöver Sapad 2025.  Viel wurde in Deutschland darüber geschrieben, ob dieses Manöver hinter der NATO-Grenze die Gefahr einer direkten bewaffneten Eskalation erhöht. Etwas unter ging dabei in der Berichterstattung, dass Sapad-Manöver in der gleichen Region auch 2013, 2017 und 2021 stattfanden, ohne dass man dadurch an den Rand eines Kriegsausbruchs kam und das Manöver auch unter offizieller Beobachtung von Vertretern dreier NATO-Staaten stattfand.  Hierbei darf nicht verschwiegen werden, dass Moskau selbst dazu beitrug, dass Manöver Panik auslösen, da die Ukraineinvasion 2022 als Manöver getarnt vorbereitet wurde. Diese fanden jedoch damals in einem mindestens vierfach größeren Umfang und verdeckt ohne ausländische Beobachtung statt und waren mit Sapad in keiner Weise vergleichbar.

Diplomatie statt Untergangsprophetie

Statt Untergangsszenarien zu lauschen, täte die europäische Politik aktuell gut daran, die Tür zu einer Verständigung mit Russland nicht zu verschließen, Diplomatie wirklich diplomatisch einzusetzen und nicht nur als Warn- und Tadelinstrument. Das bedeutet nicht, die Ukraine in irgendeiner Form im Stich zu lassen, etwa Unterstützungsleistungen zu reduzieren. Denn tatsächlich würde dies vom Kreml als Schwäche ausgelegt und als Einladung, weitere Aggressionsakte gegen kleinere Nachbarstaaten zu unternehmen, die mehrheitlich keine NATO-Mitglieder sind. Aber es muss bei gesteigerter Unterstützung ebenso wie beim eigenen Verhalten darauf geachtet werden, inwieweit es zu einer Eskalation beiträgt, die eben nicht zwangsläufig ist, sondern von beiden Seiten selbst gemacht.

Verteidigungsfähigkeit und Unterstützung schließen Rüstungskontrolle und Verständigung nicht aus, sondern sind alles Komponenten einer stabilisierenden Geopolitik. So wurde einst verhindert, dass aus dem Kalten Krieg ein Weltkrieg wurde. Kritisch hinterfragen sollte man jedoch jede Prognose eines wahrscheinlichen oder gar unaufhaltsamen Weges zum Krieg, wer sie vorbringt und mit welcher Begründung. Mehrere Handlungsmöglichkeiten sind stets gegeben und das eigene Handeln bestimmt die Zukunft - keine menschengemachte Vorsehung.