Die Beziehungen zwischen Türkiye und den USA entwickelten sich seit dem Kalten Krieg als strategische Partnerschaft. Mit dem NATO-Beitritt 1952 wurde Türkiye zu einem integralen Bestandteil der westlichen Sicherheitsarchitektur. Dennoch kam es immer wieder zu tiefen Krisen: Der Johnson-Brief von 1964, das Embargo nach der türkischen Zypern-Intervention 1974 und die „1.-März-Resolution“ im Zusammenhang mit dem Irakkrieg 2003 erschütterten das Vertrauen nachhaltig.
In den letzten Jahren führte Ankaras Kauf des russischen S-400-Luftverteidigungssystems zu Spannungen mit Washington; hinzu kamen Entwicklungen im Norden Syriens und die FETÖ, die die Vertrauenskrise vertieften. Trotz dieser Brüche zeigt das Treffen Erdoğan–Trump, dass ein neues Kapitel in den Beziehungen aufgeschlagen werden könnte.
An dieser Stelle erinnert die internationale Beziehungen-Literatur an Robert Keohanes (1984) Konzept der „komplexen wechselseitigen Abhängigkeit“: Trotz Krisen und Interessenkonflikten brechen die Beziehungen zwischen Großmächten nie vollständig ab; gemeinsame Interessen erzwingen die Fortsetzung der Zusammenarbeit. In diesem Sinne ist das Treffen Erdoğan–Trump zu deuten und ein Beleg für die erfolgreiche Diplomatie Ankaras.
Die Vielschichtige Diplomatie von Türkiye: Eine neue Dimension der Balancepolitik
Türkiye stützt seine Außenpolitik in den letzten Jahren nicht mehr ausschließlich auf die atlantische Achse. Energie- und Verteidigungskooperationen mit Moskau, Handelsbeziehungen und Projekte im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative mit Peking, Investitions- und Finanzpartnerschaften mit den Golfstaaten sowie der fortgeführte Dialog mit der EU zeigen die Breite von Ankaras diplomatischem Spektrum.
Dieses Bild erinnert an die sogenannte „hedging strategy“ (Risikostreuung): Staaten versuchen, sich in einer unsicheren internationalen Ordnung nicht von einem einzigen Akteur abhängig zu machen, sondern durch Beziehungen zu verschiedenen Machtzentren ihre strategische Autonomie zu stärken. Dass Türkiye einerseits als NATO-Partner mit den USA spricht und gleichzeitig den Dialog mit Russland und China pflegt, ist ein greifbares Beispiel dieser Balancepolitik.
In diesem Zusammenhang steht das Treffen Erdoğan–Trump für den Versuch, die Position in der atlantischen Allianz zu bewahren und gleichzeitig die eurasische Orientierung fortzusetzen. Historisch betrachtet knüpfte schon das Osmanische Reich gleichzeitig diplomatische Beziehungen zu europäischen und asiatischen Mächten – ein Hinweis auf die tiefen Wurzeln dieser Vielschichtigkeit.
Strategischer Beitrag von Türkiye für Europa
In den letzten Jahren wurde immer wieder betont, dass die USA Europa in geopolitischen Krisen zunehmend alleinlassen. Begrenzte amerikanische Unterstützung im Ukrainekrieg oder in Fragen der Energiesicherheit verstärken die Diskussion über Europas eigene Sicherheitspolitik. In diesem Kontext gewinnt eine starke und unabhängige Türkei noch größere Bedeutung.
Türkiye verfügt über die zweitgrößte Armee der NATO. Darüber hinaus trägt sie mit ihrer militärischen und diplomatischen Präsenz in Schlüsselregionen wie dem Schwarzen Meer, dem Mittelmeer, dem Nahen Osten und dem Kaukasus direkt zur Sicherheit Europas bei. Energiepipelines, Migrationsmanagement, Terrorismusbekämpfung und die technologischen Fähigkeiten im Bereich unbemannter Luftfahrzeuge machen Ankara zu einem Akteur, der Lücken in Europas Sicherheits- und Außenpolitik schließen kann.
Das Treffen Erdoğan–Trump ist daher nicht nur für die Zukunft der bilateralen Beziehungen von Bedeutung, sondern auch für Europa. Denn eine ausgewogene Beziehung zwischen Ankara und Washington bedeutet ein zusätzliches Stabilitätselement für die europäische Sicherheitsarchitektur. In den Debatten um „strategische Autonomie“, die in Brüssel seit Langem geführt werden, wird die Rolle der Türkei in den kommenden Jahren stärker hervortreten.
Die aufstrebende Rolle von Türkiye: Vom Regional- zum Globalakteur
Der Standpunkt von Türkiye in der Außenpolitik weist mittlerweile über die Rolle eines reinen Regionalakteurs hinaus auf eine globale Vision hin. Die Bemühungen, zu einem Energieknotenpunkt zu werden, die technologischen Erfolge etwa bei Drohnen oder die Vermittlungsrolle in globalen Krisen wie dem Getreidekorridor machen Ankara zu einem unverzichtbaren Akteur der Weltpolitik.
Die positiven Worte Trumps über Erdoğan in der Pressekonferenz verdeutlichen, dass auch Washington diese neue Stellung anerkennt. Die Fähigkeit von Türkiye, gleichzeitig Beziehungen zu Ost und West zu pflegen, macht sie in der neuen multipolaren Weltordnung unersetzlich.
Diese Entwicklungen widerlegen Samuel Huntingtons (1996) These vom „Kampf der Kulturen“ und zeigen stattdessen, dass Türkiye Brücken zwischen unterschiedlichen Kulturen und Machtzentren schlagen kann. Ankara besitzt somit nicht nur das Potenzial, die eigenen nationalen Interessen zu wahren, sondern auch einen Beitrag zu globalem Frieden und Stabilität zu leisten.
Am Wendepunkt der Geschichte: Eine Chance für Türkiye und Europa
Das Treffen ist nicht nur ein bilateraler Kontakt, sondern ein Symbol für die erreichte Unabhängigkeit und die vielschichtige Diplomatie von Türkiye. Sie gehört zu den wenigen Staaten, die sich nicht auf eine unipolare Ordnung festlegen, sondern gleichzeitig sowohl mit der atlantischen Allianz als auch mit eurasischen Mächten Beziehungen unterhalten können.
Für Europa ist dies von zentraler Bedeutung. In einer Phase, in der sich die USA zurückziehen, wird die Präsenz von einem starken Türkiye für die Sicherheit des Kontinents lebenswichtig. Ankara verfügt über militärische Kapazitäten, diplomatische Initiativen und eine geostrategische Lage, die es ermöglichen, Europas Isolation zu überwinden.
Türkiye befindet sich an einem historischen Wendepunkt. Mit den richtigen Schritten wird es nicht nur seine eigene Unabhängigkeit festigen, sondern auch zu einem unverzichtbaren Partner für Europas Sicherheit und für die globale Stabilität werden.






















