Globale Impfstoffkriege und die Welt nach der Pandemie
Die Konzentration von Fertigungskapazitäten der Impfstoffpotenziale der globalen Impfstoffindustrie in Richtung Industrieländer vertieft im Lichte neuer Protektionismus-Wellen globale Ungleichheiten und droht die Dauer der Pandemie zu verlängern.
08.04.2021, Berlin: In einer Hausarztpraxis wird eine Spritze mit dem Biontech-Impfstoff Comirnaty gegen das Coronavirus aufgezogen. (DPA)

Jede schwere Krise und jede Herausforderung, mit der das globale System konfrontiert wird, hebt die Fähigkeit der Problemlösung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen mittels koordinierter Reaktionen auf eine neue Stufe. In diesem Zusammenhang betrachtet lässt sich sagen, dass die globale Covid-19-Pandemie, die Anfang 2020 ausbrach und zu einer globalen Herausforderung mutierte, von der die Volksgesundheit und das öffentliche Leben bedroht werden, eben diese Konsequenzen hat. So konnten sich nach einer kurzen Phase der Panik die Regierungen der Industrieländer wieder fangen und befeuerten im Zusammenspiel mit internationalen Organisationen und ihrer Vision von der vorrangigen Entwicklung eines Impfstoffes die Entwicklung einer ganzen Reihe von Vakzinen, die versprechen, gegen das Virus wirksam zu sein, entfachten dabei aber auch einen globalen Konkurrenzkampf. Nach nunmehr einem Jahr seit Beginn der Coronakrise konnten durch die gemeinsamen Anstrengungen multinationaler Pharmakonzerne, Behörden und Forschungseinrichtungen, Erfolge bei der Entwicklung des Covid-19-Impfstoffes erzielt werden – möglicherweise schneller als je zuvor in der Menschheitsgeschichte.

Forderungen nach globaler Kooperation bleiben unbeantwortet

Die Forderungen einiger Staaten, sich als Menschheit gemeinsam der Bedrohung durch die Pandemie entgegenzustellen und beispielsweise Patente für Impfstoffe freizugeben, verhallten angesichts kapitalistischer Profitgier ungehört. Viele der von globalen biomedizinischen Großkonzernen patentierten Impfstoffe wurden in einem beschleunigten Forschungs- und Entwicklungsprozess sowie nach der Erprobung in Massentests schnell zertifiziert und vermarktet. Als aber klar wurde, dass Produktions- und Lieferkapazitäten begrenzt waren, brach ein regelrechter Impfstoffkrieg dahingehend aus, welche Akteure diese zäh anlaufenden Verteilungsmechanismen für Impfstoffe letztlich kontrollieren würden. Heute zeigt sich, dass die führenden Akteure auf dem globalen Impfstoffmarkt versuchen, die vorhandenen biomedizinischen Produktionskapazitäten auf effektivste Weise zu nutzen und ihre Leistungsfähigkeit durch öffentlich-private Partnerschaften zu steigern. Während jedoch Angestellte in Gesundheitsberufen einen Wettlauf gegen die Zeit führen, um die humanitären Auswirkungen der globalen Pandemie abzumildern, sendet ein tendenzieller Impfstoff-Nationalismus, insbesondere unter den Industrieländern, extrem gefährliche Signale für die Zukunft. Staaten, in denen Impfstoffproduzenten beheimatet sind, tendieren aufgrund ihrer entwickelten industriellen und biomedizinischen Produktionsinfrastrukturen dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die der Impfung ihrer eigenen Bevölkerung Vorrang einräumen, da die Schwierigkeiten bei der Abdeckung der weltweiten Impfstoffnachfrage zunehmen. Trotz global orientierter Unternehmensstrategien verstärken sich protektionistische Tendenzen, durch Exportbeschränkungen und sogar Verbote Impfstoffe im Inland zu halten und für nationale Bedürfnisse einzusetzen. Dass die dominierenden biomedizinischen Produktionsstätten der globalen Impfstoffindustrie auf eine kleine Anzahl von Staaten konzentriert sind und andere Regionen gemäß postfordistischem Ansatz globaler Lieferketten bei der globalen Verteilung leer ausgehen, begründet Schutzreflexe. Und dies nicht nur im Zusammenhang mit dem Export der hergestellten Impfstoffe in verschiedene Märkte. Auch die Beschränkungen des internationalen Handels mit Rohstoffen und Chemikalien, die in großem Umfang bei der Impfstoffherstellung verwendet werden, aber nur in bestimmten Staaten hergestellt werden, bestärken diesen Trend. Während sich in der Anfangsphase der Pandemie der Wettbewerb von Regierungen um den Erwerb medizinischer Produkte wie Masken, Schutzkleidung und Beatmungsgeräte zuspitzte, wird er fortan auf der Basis von Impfstoffen ausgetragen.

Industrialisierte und kapitalistische Staaten verfolgen eine egoistische Impfpolitik

Industrieländer, die den globalen Impfstoffmarkt in Bezug auf Produktionskapazität und Zugang zu Lieferketten dominieren, versuchen den größten Anteil der Produktionskapazität multinationaler Unternehmen durch monopolistische Vereinbarungen bereits vor der Herstellung zu kaufen, um die gesamte eigene Bevölkerung zu impfen und sogar Impfstoffbestände auf Lager zu horten. Ein Hauptfaktor und Auslöser dieser Impfstoffkriege ist das Wissen darüber, dass selbst wenn die gesamte globale Produktionskapazität für Impfstoffe ununterbrochen genutzt werden würde, der für die gesamte Weltbevölkerung benötigte Impfstoffbestand erst in Jahren produziert werden kann. Dass Megakonzerne, die die Möglichkeiten besitzen, Impfstoffe zu entwickeln und massenweise zu produzieren, sich hauptsächlich auf eine kleine Anzahl von Staaten wie die USA, Großbritannien, Länder in Westeuropa, Russland, China und Indien konzentrieren, führt dazu, dass in diesen Ländern, angetrieben auch von öffentlich-privaten strategischen Partnerschaften, eine neue Protektionslogik aufkommt. Auf der anderen Seite wurde ein heftiger Wettlauf zwischen Dutzenden und Aberdutzenden von Staaten, die auf Impfimporte angewiesen sind, entfacht, um in der Impfstoffversorgungskette der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein und um an Millionen von Impfdosen heranzukommen, die dringend für die Volksgesundheit benötigt werden. Viele Entwicklungsländer sind aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln auf das COVAX „Global Access to Covid-19 Vaccine Program“ der Weltgesundheitsorganisation und die Unterstützung internationaler humanitärer Organisationen angewiesen. Doch das COVAX-Programm, das darauf abzielt, Entwicklungsländern in diesem Jahr insgesamt 2 Milliarden Dosen an Impfstoffen mittels Subventionen und Zuschüssen zu vergünstigten Konditionen zu liefern, kommt aufgrund des geopolitischen Wettbewerbs der Großmächte viel zu langsam voran.

Neben den Spannungen bezüglich des Angebots und der Nachfrage auf den globalen Impfstoffmärkten stellt uns das Misstrauen zwischen der westlichen Welt einerseits und Russland bzw. China andererseits vor neue Herausforderungen. Gleiches gilt für die Versuche einer Einflussnahme auf vermeintliche Verbündete und bezüglich des Machtkampfes zwischen China und Indien zur regionalen Vorherrschaft. Darüber hinaus lösen Bestrebungen multinationaler Unternehmen, eine monopolistische Kontrolle über das Potenzial zur Impfstoffproduktion multinationaler Unternehmen zu etablieren, ernsthafte Spannungen unter den westlichen Industriemächten aus. So gipfelte der jüngste Versorgungsstreit um Impfstoffe zwischen der Europäischen Kommission und der Firma AstraZeneca darin, dass die EU damit drohte, den Export des Impfstoffes außerhalb ihrer Grenzen, beispielsweise nach Großbritannien, zu verbieten. Bekanntlich hat die EU-Kommission allen protektionistischen Tendenzen zum Trotz die Kaufprozesse von Impfstoffen der EU-Mitglieder, die zusammen auf 450 Millionen Einwohner kommen, in einer Hand gebündelt. Dabei verfolgte sie eine Linie, die darauf abzielte, die Verhandlungskraft der Mitgliedstaaten gegenüber den Impfstoffherstellern zu stärken und das Gefühl der Solidarität zwischen den starken Kernländern der EU und den Staaten in der Peripherie mit niedrigeren Staatshaushalten zu festigen. Doch da eine schwerfällige EU-Bürokratie die Probleme in der Nachfrage und den Lieferketten auf dem globalen Impfmarkt nicht rechtzeitig erkannte und auch noch zu lange für gemeinsame Entscheidungen brauchte, um mit Herstellern rechtzeitig Vereinbarungen zu unterzeichnen, verzögert sich das Impfprogramm nun ernsthaft.

Die Impfstrategie der USA

Die US-Regierung, die nahezu die gesamte Impfstoffkapazität von Moderna für ihre eigene Bevölkerung aufgekauft hatte, unterzeichnete im Juli 2020 auch einen hoch dotierten Kaufvertrag mit der Pfizer-Biontech-Gruppe. Die EU-Kommission, die annahm, dass keinerlei Versorgungsengpässe auftauchen und die globalen Impfstoffpreise sinken würden, wartete bis November des genannten Jahres, um eine Bestellung aufzugeben. Die Knappheit der Rohstoffversorgung und die Kapazitätsengpässe in den biomedizinischen Einrichtungen in Belgien, in denen auch die Impfstoffe von AstraZeneca und Pfizer-Biontech hergestellt werden, führten jedoch zu erheblichen Verzögerungen bei Liefer- und Impfprogrammen. Aufgrund des zunehmenden politischen und sozialen Drucks haben Staaten wie Frankreich, Dänemark, Ungarn und insbesondere Deutschland Schwierigkeiten, ausreichende Impfstoffe zu erwerben, obwohl letzteres das Land ist, in dem der Pfizer-Biontech Impfstoff entwickelt wurde, und fielen dadurch beim Impfen im weltweiten Vergleich hinter andere Industrienationen zurück. So leiteten diese Staaten auf eigene Faust, unter Umgehung der EU, Vereinbarungen mit den Impfkonzernen in die Wege. Dieser Prozess verschärfte sich, als AstraZeneca, der wichtigste Impfstofflieferant Großbritanniens, bei Auslieferungen aufgrund der Kaufvereinbarung die britische Regierung bevorzugte. Der Forderung europäischer Staats- und Regierungschefs, einen Teil der Produktion aus den Werken des Unternehmens in Großbritannien nach Kontinentaleuropa zu leiten, erteilte die nach dem Brexit selbstbewusster agierende britische Regierung eine Absage. Daraufhin erklärte die EU-Kommission, dass Exportbeschränkungen für alle in Europa hergestellten Impfstoffe ausgesprochen werden könnten, und drängte darauf, dass die britische Regierung auf einen Teil ihres Astra-Zeneca Kontingents verzichtet, um in Belgien hergestellte Pfizer-Biontech-Impfstoffe zu erhalten. Nach dieser Bedrohung, die die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien zum Erliegen hätte bringen können, machte die EU zwar einen Rückzieher, doch dass der Wettlauf um Impfstoffe anstatt mit feinfühligen diplomatischen Mitteln mit gegenseitigen Bedrohungen und auf der Ebene protektionistischer Handelskriege ausgetragen wird, ruft ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Zukunft der internationalen liberalen Ordnung hervor.

Impfstrategie Chinas, Russlands und Indiens

Es ist bemerkenswert, dass aufstrebende Mächte wie China, Russland und Indien, die verschiedene Formen des Staatskapitalismus umsetzen, diese Impfkriege als ein wichtiges Instrument zur Steigerung ihrer politischen Macht im internationalen System betrachten. Im Vergleich zur kapitalistischen westlichen Welt, in der die Handelsstrategien multinationaler Unternehmen in der Bündnisbildung mit öffentlichen Einrichtungen hervorstechen, spielen Führungspersönlichkeiten in den aufstrebenden Mächten sowohl politisch als auch wirtschaftlich eine große Rolle. In diesem Zusammenhang war die Benennung des russischen Impfstoffs „Sputnik“, den Präsident Putin schon sehr früh angekündigt hatte, ein symbolischer Schritt, um zu zeigen, dass die Impfstofffrage genau wie die damaligen Kämpfe um die Vormachtstellung bei Weltraumprogrammen als nationale Ehrensache betrachtet wird. Obwohl der Sputnik-Impfstoff die klinischen Standardverfahren der globalen Industrie umging und seine Studien beschleunigt wurden, konnte Putin dank der hohen Effizienz des Impfstoffes Stärke demonstrieren und bei Staaten wie dem Iran und Argentinien, die gute Beziehungen zu Russland pflegen, für große Entlastung sorgen. Auf der anderen Seite unterzeichneten viele Regierungen, die enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu China pflegen und im Rahmen der Initiative „Ein Gürtel – Ein Weg“ erhebliche ausländische Direktinvestitionen tätigen, Kaufvereinbarungen für die Sinopharm- und Sinovac-Impfstoffe. Obwohl die Wirksamkeit dieser Impfstoffe zu einer Angelegenheit der öffentlichen Diplomatie wurde, bleibt nicht unbemerkt, dass es einen ernsthaften Wettstreit und eine Propagandaschlacht zwischen russischen, chinesischen und indischen Impfstoffen gibt.

Darüber hinaus erklärten die Mitglieder des „quatrilateralen Sicherheitsdialogs“ USA, Japan, Australien und Indien (Quad) in ihrem Plan zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dass der Impfstoff der US-Firma Johnson&Johnson in Indien produziert werden soll. Während die westliche Welt Indien bei der Eindämmung der Verbreitung des chinesischen Impfstoffes offen unterstützt, entschieden sich viele Staaten, insbesondere in Südasien, für eine Zusammenarbeit mit China, das als wichtiger Akteur bei den globalen Impfstoffkämpfen heraussticht. Indien, das sich aus politischer und wirtschaftlicher Sicht in einem Konkurrenzkampf mit China befindet, war bereits vor der Pandemie mit seiner ausgeprägten Infrastruktur in der biomedizinischen Industrie äußerst wichtig, produzierte rund 60 Prozent der weltweiten Impfstoffe und gilt als „Apotheke der Welt“. Einerseits produziert das Land lizenzierte Johnson&Johnson- und AstraZeneca-Impfstoffe, andererseits bringt es den selbst entwickelten Covaxin-Impfstoff recht schnell auf den Markt und erzielt somit einen erheblichen zeitlichen Vorteil. Außerdem betreibt Indien durch Spenden von Millionen von Dosen Covaxin-Impfstoffe an Nachbarländer wie Bangladesch, Myanmar, Nepal und Bhutan Öffentlichkeitsdiplomatie, um seine regionale geopolitische Einflussnahme und sein internationales Prestige zu steigern. Die Auseinandersetzungen um die Impfstoffe wurde von der Modi-Regierung als eine einzigartige Gelegenheit genutzt, um die Optionen Indiens zu diversifizieren und angesichts ständiger Spannungen das internationale Ansehen gegenüber China zu stärken. Bei diesen globalen Impfstoffkriegen tut sich eine Kluft auf zwischen jenen Staaten, die einen Impfstoff produziert haben, und solchen, die keinen produzieren konnten; zwischen denen, die Druck auf multinationale Unternehmen ausüben können, und denen, die dies nicht können; zwischen Staaten, die die Möglichkeit besitzen, Impfstoffe für ihre gesamte Bevölkerung zu kaufen, und solchen, die dies nicht können. Die Konzentration des Produktionspotenzials der globalen Impfstoffindustrie auf Industrieländer könnte auch wegen der protektionistischen Entwicklungen die globale Ungleichheit vertiefen und die Dauer der Pandemie verlängern.

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