Das politische und regionale Echo der politischen Krise Tunesiens
Tunesien ist das einzige Land, das die Demokratisierung, eine Hauptforderung der arabischen Revolten von 2011, vollzogen hat. Internationale Akteure wie die EU stehen in der Pflicht, das Land in der am 25. Juli ausgelösten Krise zu unterstützen.
Kais Saied legt während einer Vereidigungszeremonie im Parlament den Eid als neuer Präsident von Tunesien ab. (DPA)

Mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2019 in Tunesien herrschte allgemeiner Konsens darüber, dass der Transformationsprozess nunmehr abgeschlossen und es an der Zeit sei, das System zu konsolidieren und sich auf die sozioökonomischen Probleme des Landes zu konzentrieren. Die am 25. Juli ausgebrochene Krise wirft jedoch einen dunklen Schatten auf diesen Prozess, den Tunesien im Begriff war erfolgreich zu bewältigen.

Präsident Kais Saied verkündete, dass das Parlament am 25. Juli, dem Unabhängigkeitstag des Landes, für einen Monat suspendiert wird, er den Premierminister und seine Regierung entlässt und so zügig wie möglich einen parteilosen Premierminister ernennen wird. In der Folge wurden Abgeordnete daran gehindert, das Land zu verlassen, die Tür des Parlaments wurde verriegelt. Armeeeinheiten umstellten das Parlament mit gepanzerten Fahrzeugen, und Parlamentspräsident Ghannouchi, sowie andere Abgeordnete, die Einlass begehrten, wurden daran gehindert, das Parlament zu betreten.

Darüber hinaus wurden Bilder von Kais Saied mit Sicherheitsbeamten, insbesondere der Armee, verbreitet. Diese Entwicklungen werden von vielen Kommentatoren nicht mehr als politische Krise, sondern als politischer Putsch eingestuft. Bemerkenswert ist hier, dass das Parlament für 30 Tage suspendiert wurde, anstatt es aufzulösen. Denn wäre das Parlament aufgelöst worden, hätten sowohl Parlaments- als auch Präsidentschaftswahlen anberaumt werden müssen. Die Ankündigung von Präsident Kais Saied, die Regierungsarbeit mit der Ernennung eines neuen Premierministers fortzusetzen, ändert an dieser Situation nichts. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit hilft, die Situation besser zu verstehen.

Wie und warum begann die Krise?

Als Folge der Aufstände von 2011 gelang es Tunesien, dem jahrzehntelang herrschenden autoritären Regime im Land ein Ende zu setzen. Der Zeitraum 2011 bis 2019 galt deshalb auch als „Übergangsperiode“ des Landes zum neuen, demokratischen System. Während dieser Periode wurden eine neue Verfassung verabschiedet, zahlreiche demokratische Reformen umgesetzt und die antidemokratischen Praktiken der Ben-Ali-Ära beendet. Dabei kam es immer wieder zu Krisen und sogar zu politischen Attentaten. Auch wurde der mühselige politische Prozess von den Kadern der alten bürokratischen Strukturen untergraben, die eingesetzten Regierungen wurden nach kurzer Zeit abgesetzt und es kam zu Terroranschlägen im Land. Die tunesische Öffentlichkeit und Politik konnten jedoch diese Krisen zur Überraschung vieler internationaler Beobachter überwinden. Vor allem die Reformen und der Wandel im Sicherheitsapparat beugten Provokationen und Terroranschlägen wirksam vor.

Das Jahr 2019 war in dieser Hinsicht ein sehr kritisches Jahr. Während im Land sozioökonomische Probleme aufkamen, bestand in der Öffentlichkeit noch immer die Hoffnung, das neue System könne diese Probleme bewältigen. Bei den Parlamentswahlen wurde Ennahda mit knapp 20% der Stimmen stärkste Partei, konnte aber keine Mehrheit für eine Regierungsbildung in Eigenregie zusammenbringen. Kais Saied, ein Juraprofessor ohne praktische politische Erfahrung, hatte die Präsidentschaftswahlen, die aufgrund des Todes von Präsident Es-Sebsi abgehalten wurden, mit 18% im Wahlgang und mit der Unterstützung der Ennahda mit 72% der Stimmen im zweiten Wahlgang gewonnen. Der Anführer der Ennahda-Bewegung, Ghannouchi, wurde Parlamentspräsident. Mit diesen Ergebnissen ging die Öffentlichkeit davon aus, dass nunmehr die alten Systeme und Akteure überwunden waren und die Übergangszeit damit erfolgreich abgeschlossen wurde.

Die Schwächen des parlamentarischen Systems und die Wahlergebnisse verschärften jedoch die politische Spaltung im Land. Da man sich untereinander nicht verständigen konnte, gelang es keiner Partei, eine Regierung zu bilden. Am 27. Februar 2020 wurde eine Art „Regierung der nationalen Einheit“ unter dem Premierminister Fakhfakh gebildet, dessen Partei noch nicht einmal im Parlament vertreten war, und die Hälfte des Kabinetts bestand aus parteilosen Ministern. Die Hauptherausforderungen für die Regierung bestanden darin, den Demokratisierungsprozess aufrechtzuerhalten, eine weitere Vertiefung der gesellschaftspolitischen Spaltung zu verhindern, die wirtschaftliche Not zu lindern und das Problem der Arbeitslosigkeit zu überwinden.

Der Ausbruch der Covid-19 Pandemie machte es jedoch noch schwieriger, insbesondere die wirtschaftlichen Herausforderungen anzugehen. Und die Tatsache, dass der Tourismussektor, der 8% des BIP des Landes ausmacht, quasi zum Erliegen kam, verschärfte die wirtschaftlichen Probleme Tunesiens wie in vielen anderen Ländern auch. Tatsächlich konnte die Regierung ihre Arbeit sechs Monate lang fortsetzen, und im August 2020 wurde eine vom ehemaligen Innenminister Mechichi geführte neue Regierung von Technokraten gebildet. Die politischen Probleme blieben bestehen. Diese Situation nutzte der politischen Opposition im Land. Diese zögerte nicht, die in Jahrzehnten aufgestauten sozioökonomischen Probleme des Landes der Ideologie Ennahdas zuzuschreiben.

Regionale Bedeutung der Krise

Obwohl die Krise in Tunesien auf lokaler Ebene vordergründig eine Regierungskrise zu sein scheint, kann sie nicht unabhängig von den anhaltenden Auseinandersetzungen auf regionaler Ebene bewertet werden. Die Entwicklungen in der Region seit 2011 sind auch Ausdruck eines Kampfes zwischen jenen Akteuren, die den Wandel unterstützen, und denjenigen, die sich für den Status quo in der Region starkmachen. Um es noch klarer auszudrücken: Zwischen den Ländern, die den Demokratisierungswunsch der Bevölkerung unterstützen, und jenen Ländern, die nicht zögern, mit allen erdenklichen Mitteln den Wandel lenken wollen, um die Wiederherstellung autoritärer Regime zu vollziehen. Auch die Bürgerkriege und das Chaos in Syrien, Libyen, Jemen und vielen anderen Ländern der Region haben einen Anteil an diesen Entwicklungen. Besonders nach dem Putsch 2013 in Ägypten offenbart sich ein sichtbarer Konflikt bzw. eine Konkurrenz zwischen einer Putsch-Mentalität und einer, die sich der Verkörperung des Volkswillens verschrieben hat. Diese Konkurrenz zeigt sich seit zehn Jahren in verschiedenen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten. Es ist deshalb nicht übertrieben zu behaupten, dass sich dieser Kampf heute nunmehr auf Tunesien ausgeweitet hat. Das demokratische System, das in Tunesien mit hohen Opfern installiert wurde, mit einem Putsch rückgängig zu machen, wäre der letzte Schlag gegen den Volkswillen.

Eine weitere Dimension der Entwicklungen in Tunesien auf regionaler und internationaler Ebene besteht darin, mit welchem Ergebnis Tunesien aus diesem Konflikt hervorgehen wird und welcher Vision es folgt. Die nach 2011 und insbesondere nach 2019 in Tunesien eingesetzten Regierungen nahmen in fast allen Fragen der Region eine neutrale Haltung ein und zogen es vor, sich auf landesinterne Probleme zu konzentrieren. Diese Haltung ist sowohl bei den Demonstrationen in Algerien als auch im Libyen-Konflikt deutlich geworden. In diesem Sinne ist es sinnvoll, einen Blick auf die Haltung Tunesiens in der Libyen-Frage zu werfen.

Geopolitisch grenzt Tunesien zu Land und zu Wasser an Libyen und hätte daher die Möglichkeit, die Krise in Libyen aktiv zu beeinflussen. Es ist bekannt, dass Pro-Haftar-Länder, insbesondere Frankreich, von Zeit zu Zeit Druck auf Tunesien ausübten, diese Position zu nutzen, aber insbesondere Präsident Kais Saied zog es vor, unparteiisch zu handeln. Als eine neue libysche Regierung unter Vermittlung der UNO gebildet wurde, gab es von verschiedenen Ebenen der tunesischen Regierung Erklärungen für eine Unterstützung dieses Friedensprozesses. Just in diesem Moment erhöhten politische Akteure, die nicht zögern, ihre Feindseligkeit gegenüber der Ennahda als vermeintlichem Vertreter eines politischen Islams zu artikulieren und alle Probleme des Landes auf diese Partei zu schieben, die Dosierung ihrer Opposition im Land stark. Dabei waren die im Februar und August 2020 gebildeten Regierungen eigentlich Koalitionsregierungen, und die Ennahda hatte wenig Einfluss. Und auch der Präsident war ein parteiloser Mensch. Das höchste Organ, das die Ennahda auf institutioneller Ebene innehatte, war das tunesische Parlament unter Leitung von Ghannouchi.

Und genau genommen kann man dies, wenn wir uns den Oppositionsdiskurs von Abir Musa, der Vorsitzenden der Freien Destour Partei, im letzten Jahr ansehen, die im Einklang mit dem offiziellen Diskurs und der regionalen Vision der Vereinigten Arabischen Emirate agiert, bei näherer Betrachtung deutlich erkennen. Die Reden von Abir Musa im Parlament und ihr Bemühen, die Arbeit des Parlaments zu behindern, sind auch der nationalen und internationalen Öffentlichkeit bekannt. Es ist auch bekannt, dass sie nach den Äußerungen von Präsident Kais Saied die Demonstrationen organisierte. Aus diesen Gründen lassen sich die Entwicklungen in Tunesien nicht unabhängig von den regionalen Entwicklungen bewerten. Und genau dieser Aspekt des Problems betrifft auch die Türkei.

Akteure und mögliche Szenarien für die nahe Zukunft

Die Entscheidungen, die Präsident Kais Saied mit Unterstützung des Sicherheitsapparates, insbesondere der Armee, in die Tat umgesetzt hat, haben eine Dimension, welche die nahe Zukunft des Landes prägen wird. In diesem Sinne fallen dem Präsidenten, der Armee, den politischen Parteien und der Öffentlichkeit wichtige Aufgaben zu. Für Tunesien ist es von entscheidender Bedeutung, dass diese Akteure auf Verhandlungen und Versöhnung statt auf Konflikte setzen.

An dieser Stelle lässt sich konstatieren, dass es die tunesische Armee historisch immer vorgezogen hat, sich nicht in die Politik des Landes einzumischen. Bei den Aufständen von 2011 verweigerte sie Ben Alis Befehl, die Demonstranten anzugreifen, um ebnete damit den Weg für die Revolution und gewann das Vertrauen der Bevölkerung. Die Haltung, die sie in dieser Krise einnehmen wird, wird eine der Hauptdynamiken sein, die den weiteren Verlauf des Prozesses bestimmen werden. Die bisherigen Entwicklungen aber zeigen, dass die Armee den Forderungen des Präsidenten nachgekommen ist. Die Abriegelung des Parlaments verdeutlicht diese Einstellung im besonderen Maße, da die Armee trotz der Forderung des Parlamentspräsidenten Ghannouchi, die Tür zu öffnen, dies mit der Aussage „Wir befolgen die Befehle“ verweigert hat. Von der Armee wird jetzt die nötige Sensibilität erwartet, damit die Ereignisse nicht eskalieren und keine Bilder von einem „Bürgerkrieg“ im Land die Runde machen. Ghannouchis Äußerungen, dass „die Armee sich nicht missbrauchen lassen wird“, können auch als Aufruf an die Armee gedeutet werden, in diesem Sinne sensibel zu handeln.

Nach den Anordnungen des Präsidenten veröffentlichte das Beratungsgremium der Ennahda eine Erklärung, wonach das Parlament vom Volk geschützt werde, „die Massen sich dafür auf den Plätzen versammeln und alle Parteien gegen den Putsch gemeinsam handeln sollten“. Dieser Aufruf wurde von verschiedenen Parteien und Persönlichkeiten unterstützt. Der ehemalige Präsident Marzouki, die Tunesische Arbeiterpartei und die Tunesische Republikanische Partei verlautbarten, dass sie gegen den Putsch seien, und forderten den Präsidenten auf, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Anhand dieser Momentaufnahme ergeben sich die folgenden Szenarien für den Verlauf der Krise.

Das optimistischste Szenario besteht darin, dass der Präsident seine Entscheidungen zurücknehmen und zum normalen Prozess zurückkehren wird. Dies sollte mit Blick auf die revolutionären Errungenschaften und die Aufrechterhaltung des demokratischen Prozesses geschehen. Eine solche Entscheidung ist unerlässlich, um die Wunden, die der tunesischen Demokratie zugefügt wurden, zu minimieren. Die Umsetzung eines solchen Szenarios erscheint jedoch unter realistischen Erwägungen leider sehr unwahrscheinlich.

Eine weitere Möglichkeit wäre die Ernennung eines neuen Premierministers unter den aktuellen Bedingungen und die schnellstmögliche Ansetzung von Parlamentswahlen unter einer Regierung von Technokraten. Dies erfordert jedoch eine Verlängerung des 30-tägigen Ausnahmezustands. In diesem Fall werden die wachsenden Proteste der Gegner unweigerlich zu einer Zunahme der Spannungen führen.

Das dritte Szenario ist die Bildung einer Regierung mit Zustimmung des Präsidenten und der politischen Parteien, die Öffnung des Parlaments und die dort zu beschließende Ansetzung von Neuwahlen.

Das vierte Szenario wäre, dass der zunächst bürokratische Putsch in einen Armeeputsch übergeht, und das schlimmste Szenario wäre die Wiederholung dessen, was in Ägypten zwischen dem 30. Juni und dem 3. Juli 2013 und danach in Tunesien geschah. Die Drohung von Präsident Saied, wonach, „wenn eine Waffe eingesetzt wird, die Sicherheitsbehörden mit Waffen reagieren werden“ löste ernsthafte Besorgnis dahingehend aus, dass genau dieses Szenario eintreten könnte. Tunesien war es gelungen, die Aufstände von 2011 ohne bürgerkriegsähnliche Szenen mit einem sanften Übergang zu überwinden. Damit die letzten beiden und ähnliche Szenarien eben nicht eintreten, sollten die politischen Parteien und die Öffentlichkeit, aber auch die Armee und der Präsident in Tunesien verantwortungsbewusst handeln. Denn diese Szenarien würden der tunesischen Bevölkerung und allen internationalen Akteuren, die sich bemühen, in der Region Frieden zu stiften, insbesondere der Türkei, ernsthaften Schaden zufügen.

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