Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier halten im Anschluss an ihr Treffen im Präsidentenkomplex in Ankara, Türkei, am 24. April 2024 eine gemeinsame Pressekonferenz ab. / Photo: AA (AA)
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Das 100-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Türkiye hat den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu offiziellen Gesprächen nach Türkiye geführt. Diese Reise wurde sowohl in Türkiye als auch in Deutschland umfassend diskutiert. Es lässt sich sagen, dass der Besuch insgesamt in einer positiven Atmosphäre verlief, jedoch keine signifikanten Fortschritte bei bestehenden Meinungsverschiedenheiten und Problemen erzielt wurden. Obwohl beide Länder viele Gemeinsamkeiten und gegenseitige Interessen haben, bestehen grundlegende Meinungsverschiedenheiten, insbesondere in Fragen wie Israel-Palästina, Einwanderung, EU-Beitritt von Türkiye, Außenpolitik und Russland-Ukraine-Konflikt.

Dennoch betonten beide Präsidenten während der gemeinsamen Pressekonferenz eher die gemeinsamen Punkte als die Unterschiede. Daher lässt sich entgegen den Erwartungen in den deutschen Medien sagen, dass das Treffen nicht in einer überaus negativen Atmosphäre verlief.

Türkiye-Deutschland Beziehungen: Mehr als 100 Jahre

Obwohl das 100-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Türkiye und Deutschland gefeiert wird, reichen die Beziehungen zwischen den beiden Ländern tatsächlich viel weiter zurück. Insbesondere während der späten Jahre des Osmanischen Reiches verstärkten sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten im Zuge der Modernisierungsbemühungen. Deutschland war ein wichtiger Partner bei den militärischen und administrativen Modernisierungsbemühungen des Osmanischen Reiches. Insbesondere deutsche Unternehmen und Ingenieure spielten in dieser Zeit eine aktive Rolle bei Infrastrukturprojekten wie dem Eisenbahnbau. Die in Istanbul am Sultanahmet-Platz befindliche Deutsche Fontäne (Alman Çeşmesi) ist ein Symbol für die historischen Freundschaftsbeziehungen zwischen Türkiye und Deutschland. Diese Fontäne wurde im Jahr 1898 zu Ehren des Besuchs des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Osmanischen Reich errichtet. Die Deutsche Fontäne wurde in Deutschland hergestellt und 1900 in Einzelteilen nach Istanbul gebracht, wo sie am Sultanahmet-Platz montiert wurde.

Während des Ersten Weltkriegs waren das Osmanische Reich und das Deutsche Reich Verbündete. Diese Periode repräsentiert den Höhepunkt der militärischen und strategischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten. Die beiden Staaten gingen gemeinsam in den Ersten Weltkrieg, bildeten eine Schicksalsgemeinschaft und wurden gemeinsam als Verlierer des Krieges betrachtet.

Mit der Gründung der Türkischen Republik nahmen die Beziehungen zur westlichen Welt eine neue Dimension an, und die Beziehungen zu Deutschland entwickelten sich weiter. Nach der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 wurde Türkiye für viele jüdische und politische Flüchtlinge aus Deutschland zum Zufluchtsort. Gleichzeitig wurden viele deutsche Wissenschaftler, Akademiker und Künstler nach Türkiye eingeladen und spielten eine wichtige Rolle im Modernisierungsprozess des Landes.

Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten türkische Arbeitsmigranten, die nach Deutschland gingen, eine wichtige Rolle im Wiederaufbau des durch Krieg zerstörten Deutschlands. Das 1961 unterzeichnete Arbeitskräfteabkommen zwischen Deutschland und Türkiye führte zur Migration von Millionen türkischer Arbeitnehmer nach Deutschland und zur Entwicklung enger sozialer und kultureller Bindungen zwischen den beiden Ländern. Die Geste von Steinmeier, Döner aus Deutschland mitzubringen und seinen Gästen in Istanbul anzubieten, wurde als Anerkennung der Bedeutung dieser Migration interpretiert. Steinmeier betonte die Bedeutung der in Deutschland lebenden Türken, indem er den Sirkeci-Bahnhof in Istanbul besuchte, der als Ausgangspunkt für die ersten türkischen Migranten nach Deutschland gilt.

Obwohl diese historische Zusammenarbeit und Bindung ausreichen könnten, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu verbessern, bestehen in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern viele Spannungspunkte.

Türkiye-Deutschland-Beziehungen und Palästina

Die Nahostpolitik von Türkiye und Deutschland unterscheidet sich fundamental voneinander. Hauptgrund dafür ist der Israel-Palästina-Konflikt. Zwar bestehen diese Meinungsdifferenzen zwischen den beiden Ländern schon seit Jahren, doch wurden sie seit dem 7. Oktober deutlicher. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Deutschland die jüngsten Entwicklungen in der Region seit dem 7. Oktober als Ausgangspunkt betrachtet, während Türkiye und Präsident Erdoğan die Ursprünge des Problems bis in die 1960er Jahre zurückführen. Dies spiegelt sich auch in den Erklärungen der beiden Staatschefs wider. Während Steinmeier nur über die Israelis sprach, die seit dem 7. Oktober getötet wurden, erwähnte Erdoğan die 45.000 getöteten und 75.000 verletzten Palästinenser seit dem 7. Oktober. Dieses Beispiel verdeutlicht die unterschiedlichen Standpunkte der beiden Länder zum Israel-Palästina-Konflikt.

Türkiye-Deutschland-Beziehungen und Russland-Ukraine-Konflikt

Der Russland-Ukraine-Konflikt war ein wichtiges Ereignis, das die Außenpolitik vieler Länder beeinflusst hat, und er hatte auch deutliche Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Türkiye und Deutschland. Diese Krise hat die diplomatischen Fähigkeiten von Türkiye als Regionalmacht hervorgehoben. Während westliche Länder, insbesondere Deutschland, Sanktionen gegen Russland verhängten und die Beziehungen abbrachen, bemühte sich Türkiye um diplomatische Lösungen zwischen den beiden Ländern. Während Deutschlands Ansatz den Konflikt verschärfte, trug die diplomatische Annäherung seitens Türkiye dazu bei, die Krise zu entschärfen. Erdoğans Fähigkeit, diplomatische Beziehungen zu beiden Seiten zu unterhalten, unterstrich die Fähigkeit Ankaras zur Lösung des Konflikts, während Deutschlands Ansatz den Prozess nicht positiv beeinflusste.

Rolle der kulturellen Diplomatie in den Beziehungen Türkiye-Deutschland

In Deutschland leben rund vier Millionen Menschen türkischer Herkunft, die Tausende von Unternehmen besitzen. Diese Unternehmen leisten nicht nur einen wichtigen Beitrag zur deutschen Wirtschaft, sondern tragen auch maßgeblich zur Dynamik des sozialen Lebens bei. Auch in Bereichen wie Kunst und Sport leisten Türken bedeutende Beiträge zum kulturellen und sozialen Leben in Deutschland.

Die 1961 einsetzende Arbeitsmigration bildete das Fundament für die kulturelle und soziale Interaktion zwischen Deutschland und Türkiye. Diese Migrationswelle wurde im Laufe der Zeit zu einem der wichtigsten Aspekte der Interaktion zwischen den beiden Ländern während des Wiederaufbaus Deutschlands. Türken und von ihnen gegründete NGOs, Wohltätigkeitsorganisationen, Sportvereine und Politiker haben das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gefüge der deutschen Gesellschaft nachhaltig geprägt.

Die Annahme des Doppelstaatsbürgerschaftsgesetzes in Deutschland wird als wichtiger Schritt angesehen, der diese positiven Entwicklungen unterstützt, und wurde von Präsident Erdoğan bei seinem Treffen mit Steinmeier lobend erwähnt. Dieses Gesetz erleichtert es türkischstämmigen Personen, ihre Rolle als Brücken zwischen den beiden Kulturen zu spielen, und trägt sowohl zum persönlichen als auch zum gesellschaftlichen Integrationsprozess bei.

Jedoch sind die Beiträge türkischstämmiger Personen gelegentlich Kritik und Ausgrenzung ausgesetzt. Mesut Özil, einer der wichtigsten Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft, wurde aufgrund eines Fotos mit Präsident Erdoğan aus der deutschen Sportszene ausgeschlossen und rassistischen verbalen Angriffen ausgesetzt. Dabei war Mesut Özil ein wichtiges Vorbild für in Deutschland geborene und aufgewachsene türkische Kinder. Doch wurde er von Gruppen, insbesondere von Rechtsextremen, die gegen sozialen Frieden, Wohlstand und Integration sind, ausgegrenzt.

Deutschland sollte die zunehmende Stärke von Türkiye anerkennen

Türkiye von heute ist nicht mehr Türkiye vor den 2000er Jahren. Insbesondere dank der Fortschritte in der Rüstungsindustrie, der zunehmenden militärischen und diplomatischen Macht und der wachsenden Wirtschaft spielt Türkiye global eine wichtige Rolle. Von Libyen über Aserbaidschan bis hin zu Irak und Syrien ist Türkiye in einem breiten Spektrum militärischer, politischer und diplomatischer Aktivitäten engagiert. Daher wäre es im Interesse Deutschlands, die bisherige herablassende Haltung gegenüber Türkiye zu überdenken und die strategische Bedeutung von Türkiye zu erkennen. Wie Erdoğan bei der Pressekonferenz betonte, sollten in den Beziehungen zwischen Deutschland und Türkiye vor allem Partnerschaften statt Einschränkungen, insbesondere im Bereich der Rüstungsindustrie, im Vordergrund stehen. Andererseits sollte Deutschland ein besseres Verständnis für die Sicherheitsbedenken von Türkiye haben und Türkiye bei der Bekämpfung terroristischer Organisationen aktive Unterstützung bieten. Deutsche politische Parteien und Politiker sollten Türkiye nicht als Instrument nutzen, um den Aufstieg rechtsextremer Kräfte in der Innenpolitik zu unterstützen. Leider wird Türkiye sehr oft als Werkzeug in der deutschen Innenpolitik eingesetzt, was jedoch Deutschland nie einen echten Nutzen gebracht hat und stattdessen den bilateralen Beziehungen geschadet hat.

Zukunft: Mehr Partnerschaft oder mehr Distanz in den Türkiye-Deutschland-Beziehungen?

Türkiye hat insbesondere in Fragen wie Terrorismus, Nordzypern, EU-Beitritt, Einschränkungen in der Rüstungsindustrie sowie Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland berechtigte Erwartungen an Deutschland. Diese sind für Türkiye und die Türken existenziell wichtig, und Deutschland sollte die grundlegenden Bedenken von Türkiye verstehen. Wenn Türkiye und Deutschland ihre Zusammenarbeit verstärken, wird dies zu mehr Frieden und Wohlstand auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Zentralasien führen.

Diejenigen, die eine Krise nach dem Treffen zwischen Steinmeier und Erdoğan erwarteten, haben nicht das erhalten, was sie erwartet hatten. Obwohl es zunächst Meinungsverschiedenheiten gab, insbesondere zum Thema Palästina, wird die maximale Zusammenarbeit der beiden Länder Deutschland große wirtschaftliche, militärische, politische und diplomatische Stärke bringen. Deutsche Politiker sollten nun ihre Vorurteile gegenüber Türkiye aufgeben und eine Politik des Realismus verfolgen. Die gemeinsamen Punkte dieser beiden Staaten, die eine jahrhundertelange Beziehung pflegen, überwiegen die Unterschiede.

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