Meinung
POLITIK
6 Min. Lesezeit
Ein Land im Umbruch: Wie die AfD die politische Mitte unter Druck setzt
Der Aufstieg der AfD stellt Deutschland vor eine doppelte Herausforderung: Innen rückt die politische Mitte unter Druck nach rechts – außen wächst der Druck auf eine allzu zögerliche Außenpolitik. Was bedeutet das für Deutschlands Rolle in Europa?
Ein Land im Umbruch: Wie die AfD die politische Mitte unter Druck setzt
Foto: Markus Schreiber/AP / AP
21. Oktober 2025

27 Prozent – so hoch lag die Zustimmung für die AfD in der jüngsten INSA-Umfrage für die Bild am Sonntag. Damit überholt die rechtspopulistische Partei seit Wochen die Union (CDU/CSU) und ist zur stärksten politischen Kraft des Landes geworden. Ein Rekordwert, der auf den ersten Blick überrascht, auf den zweiten jedoch tief sitzende politische und gesellschaftliche Spannungen offenbart.

Deutschland steht an einem Punkt, an dem Unzufriedenheit mit etablierten Parteien, wachsende soziale Unsicherheit und außenpolitische Orientierungslosigkeit ineinandergreifen. Während die Bundesregierung Krisen zu managen versucht – von Energie über Migration bis Inflation – gewinnt eine Partei an Boden, die das politische System selbst infrage stellt.

Doch der Erfolg der AfD ist mehr als eine momentane Proteststimmung. Er ist Ausdruck eines strukturellen Misstrauens gegenüber der politischen Mitte und ihrer Fähigkeit, das Land in einer zunehmend unsicheren Welt zu führen.

Unzufriedenheit, Identität, Kontrollverlust: Die innenpolitischen Wurzeln des Erfolgs

Der Aufstieg der AfD ist das Resultat einer Mischung aus Enttäuschung, Überforderung und dem Wunsch nach klaren Grenzen – symbolisch, sozial und politisch.

Seit Jahren wächst das Gefühl vieler Bürgerinnen und Bürger, dass sich die großen Parteien von der Lebensrealität der Menschen entfernt haben. Themen wie steigende Energiepreise, Wohnungsnot, Migration und Bürokratie werden als ungelöst wahrgenommen. Viele erleben den Staat nicht als gestaltende, sondern als reaktive Kraft.

Die AfD füllt diese Leerstelle mit einfachen Antworten: weniger Zuwanderung, weniger Europa, mehr „Ordnung“. Ihr Erfolg ist besonders dort groß, wo das Gefühl politischer Entfremdung am stärksten ist – vor allem in Ostdeutschland. Hier verbinden sich ökonomische Unsicherheit und regionale Identität zu einer Stimmung, die das „Wir gegen die da oben“ befeuert.

Hinzu kommt ein kultureller Faktor: Die Beschleunigung durch Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel wird nicht von allen als Fortschritt erlebt. Viele empfinden sie als Kontrollverlust. Die AfD bietet das Gegenversprechen von Stabilität – ein Rückzug in vermeintlich sichere nationale Gewissheiten.

Deutschland und Europa: Wenn die politische Mitte ins Wanken gerät

Die Folgen dieser Entwicklung reichen weit über den Parteiwettbewerb hinaus. Ein stabiler Konsens in der Mitte war jahrzehntelang das Fundament der deutschen Demokratie. Nun droht dieser Konsens zu erodieren.

Je stärker die AfD wird, desto mehr geraten die anderen Parteien unter Druck, ihre Rhetorik zu verschärfen. Themen wie Migration und Sicherheit dominieren erneut – oft auf Kosten langfristiger Zukunftsfragen. Die politische Kultur verändert sich: Kompromisse werden schwieriger, Polarisierung tiefer.

Besonders sichtbar ist der Ost-West-Graben. In Thüringen und Sachsen liegt die AfD teils über 30 Prozent. Das ist mehr als eine regionale Abweichung – es ist ein politischer Riss.

Auch auf europäischer Ebene bleiben die Folgen nicht aus. Deutschland galt bisher als Stabilitätsanker und moralischer Kompass der EU. Sollte sich der politische Kurs nach rechts verschieben, hätte das unmittelbare Auswirkungen auf den europäischen Integrationsprozess. Eine schwächere deutsche Führungsrolle würde Populisten in anderen Ländern weiter ermutigen.

Damit steht nicht weniger als das Selbstverständnis der Bundesrepublik auf dem Spiel: ein Land, das nach 1945 auf Kooperation, Rechtsstaatlichkeit und internationale Verantwortung setzte.

„Brandmauer hoch!“ – Gesellschaftliche Gegenwehr und das Dilemma der Mitte

Trotz scharfer Kritik bleibt Bundeskanzler Friedrich Merz bei seiner Aussage, im Stadtbild gebe es im Zusammenhang mit Migration ein Problem. „Ich habe nichts zurückzunehmen“, erklärte Merz in Berlin.

Er verteidigte seine Wortwahl und kritisierte zugleich die Proteste, die sich gegen ihn richteten:

„Wer meint, gegen meinen Satz demonstrieren zu müssen, muss sich auch die Frage gefallen lassen, ob er wirklich ein Interesse daran hat, ein Problem zu lösen – oder eher daran, einen Keil in unsere Gesellschaft zu treiben.“

Und weiter: „Fragen Sie Ihre Kinder, fragen Sie Ihre Töchter, fragen Sie im Freundes- und Bekanntenkreis herum. Alle bestätigen, dass das ein Problem ist – spätestens mit Einbruch der Dunkelheit“, so Merz.

Während die AfD in den Umfragen neue Rekordwerte erreicht, regt sich in der Zivilgesellschaft ein anderer Ton: Widerstand. In Berlin versammelten sich am vergangenen Wochenende mehrere Tausend Menschen unter dem Motto „Brandmauer hoch! Wir sind das Stadtbild“ vor dem Brandenburger Tor.

Das Bündnis, dem Initiativen wie Eltern gegen Rechts und Hand in Hand angehören, wollte ein sichtbares Zeichen gegen Rassismus und für Vielfalt setzen – und zugleich deutlich machen, dass die gesellschaftliche Mitte nicht kampflos den populistischen Narrativen überlassen werden darf.

Der unmittelbare Anlass war die Äußerung von CDU-Chef und Bundeskanzler Friedrich Merz, der im Zusammenhang mit Zuwanderung von einem „Problem im Stadtbild“ gesprochen hatte. Kritiker warfen ihm vor, sprachlich gefährlich nah an das Vokabular der AfD heranzurücken.

Zwar bekräftigte Merz inzwischen seine Aussage, anstatt sie zurückzunehmen – doch das Signal war gesetzt: Selbst die politische Mitte beginnt, an ihrer Brandmauer zu wackeln.

Innerhalb der CDU wird darüber heftig gestritten. Während die Parteiführung offiziell an der Distanz zur AfD festhält, fordern einige einflussreiche Stimmen eine „pragmatischere“ Haltung – also de facto eine Öffnung. Diese Debatte verdeutlicht, wie tief der Erfolg der AfD bereits in die politische DNA des Landes eingesickert ist.

Gleichzeitig zeigt die Demonstration, dass es in Deutschland noch eine starke zivilgesellschaftliche Reflexbewegung gibt. Sie erinnert daran, dass Demokratie nicht nur an Wahlurnen, sondern auch auf den Straßen verteidigt wird – und dass die Brandmauer zwischen Demokratie und Populismus letztlich nicht von Parteien, sondern von Bürgerinnen und Bürgern getragen werden muss.

Außenpolitik unter Druck: Wie sich ein AfD-geprägtes Deutschland positionieren würde

Deutschland wird seit Jahren dafür kritisiert, außenpolitisch zu zögerlich zu agieren. Ob in der Ukraine-Politik, im Nahen Osten oder im Umgang mit China – Berlin gilt als langsam, vorsichtig, konfliktscheu. Diese Zurückhaltung, oft als „strategische Geduld“ bezeichnet, wird im Inland zunehmend als Schwäche interpretiert.

Die AfD nutzt genau dieses Vakuum. Sie verspricht eine „selbstbewusste Außenpolitik“ – gemeint ist aber eine Politik der nationalen Abschottung. Ihre Vertreter lehnen Sanktionen gegen Russland weitgehend ab und betrachten die NATO mit Skepsis. Multilaterale Kooperation gilt als Belastung, nicht als Stärke.

Ein solches außenpolitisches Paradigma würde Deutschlands Image tiefgreifend verändern. Das Land, das über Jahrzehnte als verlässlicher, rationaler und europäischer Akteur galt, würde sich zu einem unberechenbaren, eigennützigen Partner wandeln. Vertrauen, das über Generationen aufgebaut wurde, könnte in wenigen Jahren verspielt werden.

Auch strategisch hätte das Folgen: Eine Schwächung des deutschen Engagements in EU oder NATO würde die Sicherheitsarchitektur Europas destabilisieren – gerade in einer Zeit, in der globale Unsicherheiten zunehmen. Partnerstaaten wie Polen, Frankreich oder die baltischen Länder würden sich stärker an die USA orientieren oder eigene Wege suchen.

Doch paradoxerweise ist es gerade diese außenpolitische Passivität, die der AfD Auftrieb verschafft hat. Ein Teil der Bevölkerung empfindet Deutschlands Zurückhaltung nicht als Besonnenheit, sondern als Orientierungslosigkeit. Die AfD bietet darauf ein einfaches, aber gefährliches Gegenmodell: Aktivismus ohne Verantwortung, Nationalismus ohne Strategie.

Ein gefährlicher Spiegel

Der Höhenflug der AfD ist weniger ein Zeichen ihrer Stärke als ein Symptom der Schwäche des politischen Systems. Er spiegelt Ängste, Ratlosigkeit und eine tiefe Sehnsucht nach Richtung wider – nach innen wie nach außen.

Solange Deutschland seine politische Mitte nicht neu belebt und in der Außenpolitik nicht überzeugender auftritt, wird dieses Vakuum bestehen bleiben. Und solange wird die AfD darin gedeihen.

Deutschland steht damit nicht nur vor einer parteipolitischen Herausforderung, sondern vor einer Frage seiner Identität: Will es wieder Verantwortung übernehmen – oder weiter zögern?