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Merz rückt nach rechts – die AfD profitiert
CDU-Chef Friedrich Merz will mit ausländerfeindlicher Rhetorik die AfD bremsen – doch je weiter er nach rechts rückt, desto stärker wird sie. Die Geschichte lehrt: Wer den Populisten nacheifert, verhilft ihnen erst zum Aufstieg.
Merz rückt nach rechts – die AfD profitiert
Foto: -/REUTERS / Reuters
23. Oktober 2025

In der deutschen Politik vollzieht sich derzeit ein gefährlicher Paradigmenwechsel. CDU-Chef Friedrich Merz versucht, seine Partei als „Stimme des Volkes“ zu profilieren. Doch anstatt die politische Mitte zu stärken, verschiebt er sie – Schritt für Schritt – nach rechts. Seine Sprache ist schärfer geworden, seine Themen enger: Migration, Kriminalität, soziale Unruhe. Was als Versuch gilt, die AfD einzudämmen, entwickelt sich zunehmend zu einer Annäherung an deren Rhetorik.

Theorie und Erfahrung zeigen: Die Mitte verliert, wenn sie den Rändern folgt. Dieses Phänomen wird in der Politikwissenschaft als „Paradox der radikalen Nachahmung“ beschrieben: Wenn Parteien der Mitte die Themen und Begriffe der Populisten übernehmen, um sie zu schwächen, normalisieren sie genau jene Denkmuster, die sie eigentlich bekämpfen wollen. Frankreichs Sarkozy, Österreichs Kurz oder die Niederlande unter Rutte haben diese Strategie bereits ausprobiert – kurzfristig mit Erfolg, langfristig mit fatalen Folgen. Der politische Diskurs verschob sich, und am Ende profitierten die Radikalen.

Auch in Deutschland lässt sich dieses Muster beobachten. Die AfD liegt in mehreren ostdeutschen Bundesländern bei fast 40 Prozent. Merz’ Versuch, mit migrationsfeindlicher Sprache Wähler zurückzugewinnen, hat sie nicht geschwächt, sondern gestärkt. Denn in der politischen Psychologie gilt: Wer den Ton des Gegners übernimmt, bestätigt seine Agenda. Wählerinnen und Wähler greifen lieber zum Original als zur Kopie.

Gefährliche Normalisierung – je schärfer der Ton, desto tiefer der Riss

Was sich in der CDU-Rhetorik unter Friedrich Merz vollzieht, ist nicht nur ein taktischer Irrtum, sondern ein gesellschaftliches Risiko. Ausländerfeindliche Akzente sind längst kein exklusives Markenzeichen der AfD mehr; sie hallen – in unterschiedlichen Lautstärken – von der CDU über die FDP bis hin zu lokalen SPD-Debatten wider. Das Ergebnis ist eine schleichende Verschiebung des Sagbaren: Haltungen, die gestern als extrem galten, erscheinen heute diskutabel.

Sozialwissenschaftliche Befunde zeigen seit Jahren, dass verrohte Sprache mit einem Anstieg von Hasskriminalität korreliert. Worte schaffen Wirklichkeit – Hanau und Halle erinnern schmerzhaft daran, wie leicht aus Worten Taten werden. Die Normalisierung dieser Rhetorik hat einen doppelten Preis: Erstens schafft sie ein Klima des Generalverdachts gegenüber Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte. Zweitens untergräbt sie die Zukunftsfähigkeit des Landes.

Deutschland braucht qualifizierte Zuwanderung – in Industrie, Pflege, Bildung, Forschung und Technologie. Eine alternde Gesellschaft mit sinkender Geburtenrate kann ohne Zuwanderung ihre Produktivität und Innovationskraft nicht sichern. Wer Talente mit abweisender Rhetorik abschreckt, schwächt genau jene Wettbewerbsfähigkeit, die im globalen Rennen gegen die USA und China, bei der Digitalisierung, der grünen Transformation und der Energiesicherheit ohnehin unter Druck steht. Die Geschichte ist eindeutig: Gesellschaften, die sich abschotten, verlieren Ideen, Köpfe – und am Ende Wohlstand.

Politikwissenschaftlich ist diese Dynamik gut beschrieben. Populismus idealisiert ein homogenes „Volk“, konstruiert ein feindliches „Oben“ und bietet einfache Antworten auf komplexe Fragen. Er ist antipluralistisch: Er behauptet, den einen „wahren Volkswillen“ zu kennen und degradiert abweichende Positionen zum Verrat. Wenn eine Partei der Mitte diese Logik übernimmt, verschiebt sie nicht nur Diskurse, sondern auch Werte. Genau davor warnen Demokratieforscher: Mit jeder Debatte wandern Grenzen, bis das Drastische gewöhnlich wird – und jemand „noch einen draufsetzt“.

Die falsche Antwort auf die AfD – härter reden heißt, ihre Agenda zu bestätigen

Der Aufstieg der AfD erklärt sich nicht durch Migration, sondern durch den Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der Politik. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich übersehen, ihre Lebensrealitäten in der Berliner Sprache nicht wiedererkannt. Populisten besetzen dieses Vakuum mit emotionalen, scheinbar klaren Antworten. Doch die Lehre aus anderen Ländern ist eindeutig: Wer die radikale Rhetorik kopiert, stärkt das Original. Das „Paradox der Nachahmung“ wirkt zuverlässig – die Kopie legitimiert das Thema, der Urheber profitiert.

Wirksame Gegenstrategien setzen deshalb nicht auf Überbietung, sondern auf performative Legitimität – auf sichtbare Ergebnisse statt lauter Ankündigungen. Probleme müssen tatsächlich gelöst, Zusagen eingehalten und Entscheidungen nachvollziehbar kommuniziert werden. Hier liegen die echten Prüfsteine politischer Führung: marode Infrastruktur, unzureichende öffentliche Investitionen, die Folgen des Krieges in der Ukraine, die Finanzierung der Energiewende, die Reform der Sozialsysteme im Angesicht der Alterung und die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Europas. Wer diese Herausforderungen entschlossen angeht und konkrete Ergebnisse liefert, entzieht der empörungsgetriebenen Politik den Boden.

Statt Nachahmen – Verantwortung, Empathie und Ehrlichkeit

Die politische Mitte kann das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht durch schärfere Worte zurückgewinnen, sondern nur durch eine Rückkehr zu Verantwortung, Empathie und Glaubwürdigkeit. Deutschland braucht keine Parteien, die Populisten imitieren, sondern solche, die Probleme verstehen und lösen. Vertrauen entsteht nicht durch Symbolpolitik oder moralische Empörung, sondern durch greifbare Wirksamkeit – durch Politik, die funktioniert.

Das bedeutet, Entscheidungen auf Grundlage von Fakten zu treffen, Sorgen ernst zu nehmen, ohne Sündenböcke zu schaffen, und politische Kohärenz zu wahren – also dafür zu sorgen, dass Versprechen, Gesetze und Umsetzung einander nicht widersprechen, sondern ineinandergreifen. Nur eine Politik, die glaubwürdig handelt und konsistent bleibt, kann dem Populismus den Nährboden entziehen.

Denn rechtspopulistische Bewegungen leben nicht von Lösungen, sondern von der Erfahrung politischer Ohnmacht. Je weniger die Demokratie liefert, desto stärker wird die Versuchung der einfachen Antworten. Deutschland steht deshalb an einem Wendepunkt. Die Alternative liegt nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen Lautstärke und Lösungsfähigkeit. Eine Demokratie, die Empathie zeigt und Probleme pragmatisch angeht, gewinnt ihre Stärke zurück.

Wer dagegen nur auf Abgrenzung und Provokation setzt, verliert langfristig die Mitte – und mit ihr das Fundament des politischen Vertrauens. Am Ende ist die Aufgabe klar: weniger Empörung, mehr Ehrlichkeit; weniger Schlagwort, mehr Substanz. Nur so wird aus dem Echo populistischer Parolen wieder eine Richtung, die dem Land Orientierung gibt.