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Rhetorik als Politik: Was hinter der Merz-Aussage wirklich steckt
Die Äußerungen zum „Stadtbild“ sind kein Zufall und kein Ausrutscher, sondern ein bewusst gesetztes politisches Signal: Sprache wird hier zur Grenzverschiebung im Diskurs genutzt – um Zugehörigkeit und Ausschluss neu zu markieren.
Rhetorik als Politik: Was hinter der Merz-Aussage wirklich steckt
Foto: John MacDougall/AFP / AFP
27. Oktober 2025

Die Reaktionen auf die Äußerungen von Bundeskanzler Friedrich Merz zur Migrationspolitik und zum „Stadtbild“ verdeutlichen, wie Sprache und Bilder politische Debatten prägen, gesellschaftliche Gruppen pauschalisieren und dadurch die Grenzen des Sagbaren verschieben können. Die Aussage ist kein sprachlicher Ausrutscher, sondern Ausdruck der persönlichen Überzeugung eines 70-Jährigen, der sich als Sprecher der vermeintlichen Mehrheitsmeinung in Deutschland versteht. Zugleich spiegelt sie die aktuelle CDU-Strategie wider, die auf eine politische Verschiebung nach rechts abzielt – mit offenem Ausgang für Partei und Gesellschaft.

Der politische Impuls

Friedrich Merz erklärte im Oktober in Brandenburg, seine Regierung sei in der Migrationspolitik bereits weit gekommen und habe die Zahlen gesenkt. Zugleich schränkte er ein: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen. Das muss beibehalten werden, das ist in der Koalition verabredet.“

Diese Worte – die Verknüpfung von Abschiebung mit der Ablehnung einer gesellschaftlichen Gruppe, die nach Merz’ Empfinden von der Norm abweicht und aufgrund ihres Erscheinungsbildes oder Verhaltens „nicht dazugehört“ – trafen einen Nerv, sowohl bei Unterstützern als auch bei Kritikern der Regierungslinie. Später betonte Merz trotzig, er habe keinen Anlass zur Korrektur: „Fragen Sie Ihre Kinder, fragen Sie Ihre Töchter, fragen Sie im Bekanntenkreis. Alle bestätigen, dass das ein Problem ist, spätestens mit Einbruch der Dunkelheit.“

Die Komplexität des Problems und der Nutzen der Vereinfachung

In keinem Politikfeld gibt es das eine Problem, sondern immer mehrere – ob in der Migrations-, Klima-, Sicherheits- oder Sozialpolitik. Welcher Aspekt als der wichtigste erscheint, ist subjektiv und hängt maßgeblich davon ab, aus welcher Perspektive und mit welchem sprachlichen Rahmen über ein Thema gesprochen wird. Die Migrationsdebatte zeigt das besonders deutlich: Kriminalität und die Belastung der Sozialsysteme sind reale Aspekte, doch deren Auswahl und Kombination als zentrale Leitmotive ist in erster Linie eine politische Inszenierung – jedoch kein ganzheitliches Konzept.

Wer sich auf Einzelsegmente wie Grenzschutz, Abschiebung oder humanitäre Verantwortung beschränkt, wird der Komplexität nicht gerecht. Stattdessen orientiert er sich eher daran, Aufmerksamkeit zu erzeugen und die eigene Unterstützerbasis zu mobilisieren. Echte Lösungssuche komplexer Fragen sieht anders aus. Das gilt im Übrigen für alle politischen Lager – und ihre jeweils ideologisch bedingte selektive Wahrnehmung von Wirklichkeit.

Die soziale Gruppe und der einzelne Mensch

Wer das Bild „arbeitsloser junger Männer eines bestimmten Phänotyps“ in Innenstädten oder Bahnhöfen bemüht, zielt auf spontane Zustimmung für vermeintlichen Mut und Offenheit, einen behaupteten „Missstand“ anzusprechen. Dabei geht es weder um Fakten wie Kriminalitätsstatistiken noch um die Frage, ob und wie viele der „Töchter“ Merz’ Diagnose überhaupt teilen. Wie immer bei populistischer Rhetorik und dem Sprechen „im Namen der Guten“ wird eine gesellschaftliche Gruppe pauschal abgewertet, die – in einem binären Wir-und-Sie-Denken – als „die Anderen“ dient, um die eigene Position zu stärken, sich selbst als Maßstab zu nehmen und darüber ein Gefühl der Überlegenheit zu erzeugen.

Schaut man dagegen genauer hin, werden aus der Gruppe einzelne Menschen: solche, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens nicht automatisch eine Gefahr darstellen und sich in ihrer Vielfalt kaum von jenen Deutschen unterscheiden, die für Merz ein „gutes Stadtbild“ abgeben sollen – unter denen es ebenfalls Kriminelle und Arbeitslose gibt. Und ebenso Beispiele außerordentlicher Zivilcourage: etwa der kurdisch-iranische Flüchtling Chia Rabiei, der 2021 in der Würzburger Fußgängerzone mit nichts als einem Stuhl einen Messerangreifer aufhielt. Oder Vili Viorel Păun, ein rumänischer Rom, der 2020 in Hanau den rechtsextremen Amokläufer verfolgte – und dafür sein Leben ließ.

Während die Rede vom „Stadtbild“ Menschen zu einer entmenschlichten Problemgruppe reduziert, erinnern solche Taten daran, dass Menschenrechte und Asyl immer Individuen schützen – nicht abstrakte Kollektive.

Reaktionen auf Merz’ Äußerungen:

Die Reaktionen auf Merz’ Satz reichen von Empörung, dem reflexhaften Einsatz der „Nazikeule“ und Forderungen, deutsche Staatsbürger anderer Hautfarbe sollten ihre Orden und Medaillen zurückgeben – bis hin zur begeisterten Zustimmung: „Endlich sagt’s mal einer“ oder „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ Linken Kritikern spielt dabei in die Hände, dass sich ein Tagebucheintrag von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels findet, in dem es heißt: „Sie verderben nicht nur das Straßenbild, sondern auch die Stimmung. Berlin muß eine judenfreie Stadt werden.“

Suggeriert wird, dass, wenn die von Merz später präzisierte Gruppe – junge, arbeitslose, straffällig gewordene Männer mit Migrationshintergrund – nicht mehr sichtbar wäre, deutsche Städte automatisch sauberer und sicherer wären. Das ist eine Illusion: Die gesellschaftlichen Probleme sind weitaus vielfältiger. Doch wenn sie schon nicht gelöst werden, verschafft politisch zumindest das Versprechen, „etwas zu tun“, kurzfristige Zustimmung.

Dieses Muster findet sich auch andernorts. In den USA inszeniert sich Donald Trump als Befreier jener, denen die liberale „Gesinnungspolizei“ angeblich das Wort verbiete. In polarisierten Gesellschaften wird Identität zur Waffe. Deutschland ist – wie Soziologen betonen – kein polarisiertes Land. Doch auch hier ringen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen um Deutungshoheit. Das konservative Lager steht dabei vor dem Problem, eigene Anliegen klar zu formulieren, ohne Rechtsextremen in die Hände zu spielen, die bewusst an der Verschiebung der Grenzen des Sagbaren arbeiten. Genau hier setzt die AfD an, wenn sie für sich beansprucht, „die Normalität“ zu vertreten.

Die Wirkungsmacht der Sprache

Die Fotografin Beate Knappe bemerkt dazu:
„Worte wie Stadtbild oder Straßenbild sind keine neutralen Begriffe. Sie formen, was wir sehen – und was wir sehen sollen. Sie verwandeln soziale Wirklichkeit in visuelle Ordnung. Und wer über Ordnung spricht, spricht fast immer auch über Kontrolle. Die Stadt ist nie nur Kulisse – sie ist Bühne unserer Werte. Wer sagt, das Stadtbild sei ‚problematisch‘, spricht nicht über Fassaden, sondern über Menschen; teilt Sichtbares und Unsichtbares, Zugehörigkeit und Fremdheit, Schönheit und Störung. In Goebbels’ Satz wurde daraus Vernichtung. In Merz’ Satz wird daraus Stimmungspolitik. In beiden Fällen verrät die Metapher, was sie verschleiern will: die Angst vor Veränderung, die Angst vor dem Anderen, die Angst, das eigene Bild von Ordnung könne sich auflösen.“

Die Ampel-Koalition war mit dem Anspruch angetreten, Deutschland grundlegend zu reformieren. Nach ihrem Scheitern verlagerten viele ihre Hoffnung darauf, dass eine konservative Regierung Veränderung verlangsamen und dem Bedürfnis nach Ordnung Vorrang geben werde. Genau das greift Merz auf – und es ist kein Opportunismus, sondern Ausdruck seiner Überzeugung.

Die Migrationspolitik wird dadurch jedoch nicht besser. Zahlen verändern sich nicht, weil ein Kanzler 2025 bestimmte semantische Signale sendet. Und zu gesellschaftlichem Zusammenhalt trägt diese Rhetorik ebenso wenig bei. Politisch handelt es sich um die bewusst angekündigte Neupositionierung der CDU nach rechts – kein sprachlicher Ausrutscher, sondern eine strategische Entscheidung. Welche Folgen das für Partei und Gesellschaft haben wird, bleibt offen.