Seit mehr als sieben Jahrzehnten lebte Europa – und vor allem Deutschland – unter dem schützenden Dach des amerikanischen Sicherheitsschirms. Die NATO war nicht nur ein militärisches Bündnis, sondern das Symbol einer arbeitsteiligen Ordnung: Die Vereinigten Staaten garantierten den Schutz, während Europa sich auf Wohlstand und Integration konzentrierte. Doch dieses Gleichgewicht bricht zusehends auseinander.
Die amerikanische Sicherheitsarchitektur zeigt Risse – und mit dem Rückzug der USA aus der globalen Verantwortung droht der transatlantische Schutzschirm auseinander zu fallen. Für Europa bedeutet das: Die russischen Raketen stehen weiterhin im Osten, doch der Schutz aus Washington ist nicht mehr selbstverständlich. In Berlin und Brüssel wächst deshalb die Panik, bevor die amerikanische Deckung endgültig verschwindet, eine eigenständige Sicherheitsarchitektur zu errichten.
Deutschland hat nun den größten Aufrüstungsplan seiner Nachkriegsgeschichte vorgestellt: 377 Milliarden Euro sollen bis 2034 in Waffen und modernste Systeme investiert werden. Damit steigt der deutsche Verteidigungshaushalt – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – auf das fast Dreifache des Vorkriegsniveaus. Hinter diesem Zahlenwerk steht eine nüchterne Erkenntnis: Die Bundeswehr ist weder personell noch technisch auf einen Krieg vorbereitet. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Juli 2011 fehlt es an Soldaten, an Munition und an funktionsfähigem Gerät.
Europa zahlt heute den Preis für Jahrzehnte sicherheitspolitischer Bequemlichkeit. Doch weder die USA – die unter Donald Trump offen mit einem Rückzug drohten – noch Russland – das längst wieder zur Machtpolitik übergegangen ist – warten darauf, dass Deutschland und Europa kampfbereit werden.
Ein Kontinent auf der Suche nach Schutz
Historisch betrachtet folgt Sicherheit einer klaren Logik: Wenn ein Staat die Sicherheit eines anderen garantiert, geschieht das selten aus reiner Selbstlosigkeit. Entweder handelt es sich um ein imperiales Schutzverhältnis – oder der Beschützte zahlt dafür einen Preis. In der Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg traf jedoch beides nicht zu.
Die USA schützte Europa nicht, um Tribut zu kassieren, sondern um die Ausbreitung der Sowjetunion einzudämmen. Im Kalten Krieg ging es um Einflusszonen, nicht um Steuern. Der „freie Westen“ sollte als Bollwerk gegen Moskau bestehen – militärisch durch die NATO, wirtschaftlich durch den Marshall-Plan und die Truman-Doktrin. Die Vereinigten Staaten stationierten ihre Truppen in Deutschland, stützten den Wiederaufbau und hielten Europa im westlichen Orbit. Sicherheit bedeutete damals nicht Selbstständigkeit, sondern Einbindung in eine amerikanisch dominierte Ordnung.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien dieser historische Auftrag erfüllt. Die Vereinigten Staaten blieben als einzige Supermacht zurück, und Europa genoss drei Jahrzehnte strategischer Ruhe. Sicherheit wurde selbstverständlich, Kriege galten als Relikte der Vergangenheit. Während Washington im Nahen Osten und in Asien militärisch aktiv blieb, verfiel Europa in sicherheitspolitische Trägheit – und die Bundeswehr wurde zum Symbol dieser Nachlässigkeit.
Doch mit dem Beginn der 2020er-Jahre kehrte die Realität zurück. „America First“ bedeutete nichts anderes als die Rückkehr zu einem alten Grundprinzip der Machtpolitik: Schutz gibt es nicht umsonst. Donald Trump stellte öffentlich die Frage, warum die USA die Sicherheit eines wohlhabenden, aber wehrunwilligen Europas garantieren sollten. Er verlangte höhere Verteidigungsausgaben, drohte mit dem Rückzug amerikanischer Truppen und bezeichnete Deutschland wiederholt als „free rider“. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sah sich Europa mit der Möglichkeit konfrontiert, ohne amerikanische Rückendeckung auskommen zu müssen.
Für viele Regierungen auf dem Kontinent war das ein Schock. Man hatte die eigene Verteidigung weitgehend an die USA delegiert – finanziell, technologisch und strategisch. Als dann Russland 2022 in die Ukraine einmarschierte, zeigte sich, wie groß diese Abhängigkeit geworden war: Europa verfügte über kaum einsatzfähige Armeen, leere Munitionslager und minimale industrielle Kapazitäten.
Damit wurde klar: Weder kann Europa auf einen ewigen amerikanischen Sicherheitsschirm hoffen, noch hat es selbst die Mittel, sich zu verteidigen. Diese doppelte Erkenntnis – der bröckelnde amerikanische Schutz und die gleichzeitige russische Bedrohung – zwingt Deutschland und seine Nachbarn, in kürzester Zeit das nachzuholen, was man über Jahrzehnte versäumt hat: den Aufbau einer eigenständigen europäischen Sicherheitsordnung – bevor es zu spät ist.
Die neue Zeitenwende: Deutschlands Rückkehr zur Aufrüstung
Diese sicherheitspolitische Ernüchterung fand ihren dramatischsten Ausdruck im Februar 2022, als Russland in die Ukraine einfiel. Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten stand wieder eine reale, greifbare militärische Bedrohung vor der Tür. Die Nachkriegsordnung, die jahrzehntelang auf Stabilität und Abschreckung beruhte, erwies sich als brüchig. Für Deutschland bedeutete dieser Moment eine Zäsur – eine „Zeitenwende“, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es in seiner historischen Rede im Bundestag nannte.
Doch die eigentliche Wende begann nicht nur im politischen Diskurs, sondern in der nüchternen Bestandsaufnahme der eigenen Streitkräfte. Als die Gefahr plötzlich konkret wurde, blickten die Verantwortlichen nach innen – und sahen eine Armee, die in vielerlei Hinsicht nicht einsatzbereit war. Munitionslager waren nahezu leer, ein erheblicher Teil der Panzerflotte nicht funktionsfähig, Flugzeuge und Hubschrauber oft wartungsbedürftig. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius selbst räumte ein, dass die Bundeswehr „nicht in der Lage“ sei, Deutschland im Ernstfall eigenständig zu verteidigen.
Als unmittelbare Reaktion kündigte Berlin ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro an – ein nie dagewesener finanzieller Kraftakt. Doch zwei Jahre später bleibt unklar, wie viel davon tatsächlich in operative Fähigkeiten umgesetzt wurde. Viele Projekte stecken noch in der Planungsphase, während sich Beschaffungsverfahren und Lieferzeiten hinziehen.
Nun folgt der nächste Schritt: Ein neuer Zehnjahresplan über 377 Milliarden Euro soll die Bundeswehr modernisieren. Geplant sind unter anderem Hunderte Puma-Schützenpanzer, mobile Flugabwehrsysteme des Typs Skyranger 30, F-35-Kampfflugzeuge, IRIS-T-Raketen sowie Satelliten- und Drohnenprogramme. Allein diese Zahlen verdeutlichen den Umfang des Umbruchs: Deutschland will seine Verteidigungsausgaben – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – von etwa 1,2 Prozent im Jahr 2017 auf rund 3,5 Prozent bis 2029 steigern. Das entspricht einem Anstieg von rund 41 Milliarden auf 168 Milliarden Euro jährlich.
Gleichzeitig bleibt die Personalfrage ungelöst. Die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 hat ein dauerhaftes Rekrutierungsdefizit hinterlassen. Neue Anreize und Freiwilligenprogramme sollen die Lücken schließen, doch selbst Regierungsberichte zweifeln daran, ob dies ausreicht. Eine Rückkehr zur Wehrpflicht steht erneut zur Debatte.
Deutschland erlebt damit tatsächlich eine Zeitenwende – nicht nur als Schlagwort, sondern als strukturelle Neuausrichtung: Der Weg führt zurück zu einer militärischen Normalität, in der Abschreckung, Rüstung und Wehrfähigkeit wieder zentrale Bestandteile deutscher Sicherheitspolitik sind.
Im Wettlauf gegen die Zeit
Dass Deutschland inzwischen erkannt hat, dass es seine Sicherheit nicht dauerhaft in die Hände anderer legen kann, ist zweifellos ein Fortschritt. Die politische Einsicht, die Abhängigkeit von den USA zu verringern und eigene Verantwortung zu übernehmen, markiert einen wichtigen mentalen Wandel. Spät, aber nicht zu spät – der erste Schritt ist getan. Doch die eigentliche Frage lautet: Reichen Bewusstseinswandel und Geld allein aus, um nach Jahrzehnten der sicherheitspolitischen Bequemlichkeit wieder eine schlagkräftige Verteidigungsfähigkeit aufzubauen?
Ein Land, dessen Gesellschaft sich an Frieden, Wohlstand und sicherheitspolitische Distanz gewöhnt hat, lässt sich nicht über Nacht militärisch „reaktivieren“. Und die Zeit spielt gegen Berlin: Russland hat seine Industrie, Armee und Gesellschaft längst auf einen langwierigen Krieg eingestellt. Europa dagegen beginnt gerade erst, Strukturen zu schaffen, die Moskaus Tempo kaum mitgehen können.
Zudem droht das klassische Sicherheitsdilemma: Je stärker Deutschland und Europa aufrüsten, desto mehr fühlt sich Russland bedroht – und beschleunigt seinerseits die eigene Militarisierung. In diesem Kreislauf liegt der strategische Vorteil klar auf russischer Seite. Doch wenn Europa in dieser neuen Sicherheitsordnung echte Abschreckung und strategische Stabilität erreichen will, braucht es Partner mit operativer Erfahrung, Kampferfahrung und strategischem Gewicht.












