Schröder: Türkei eine Vormacht im östlichen Mittelmeer
Altkanzler Schröder beschreibt die Türkei in seinem neuen Buch als eine nicht mehr zu ignorierende Vormacht im östlichen Mittelmeer-Raum. Er kritisiert zudem, dass der EU-Beitrittsprozess vonseiten Europas nie „ehrlich“ geführt worden sei.
24.04.2019, Niedersachsen, Hannover: Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) spricht bei einem Empfang der Stadt Hannover zu seinem 75. Geburtstag im Neuen Rathaus (DPA)

Die Türkei ist zu einer Vormacht im östlichen Mittelmeer-Raum aufgestiegen. Das schreibt der Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem neuesten Buch „Letzte Chance“. „Es mag uns Europäern gefallen oder auch nicht, aber die Türkei ist inzwischen eine nicht mehr zu ignorierende Vormacht im östlichen Mittelmeer“, erklärt der Altkanzler im mit dem Historiker Gregor Schöllgen gemeinsam verfassten Werk. Die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung betonend analysiert Schröder in seinem Buch die Entwicklung zahlreicher regionaler Akteure. „Das gilt mehr denn je für den Umgang mit einigen schwierigen, aber nun einmal nicht zu umgehenden Akteuren der Weltpolitik wie China, Russland oder auch der Türkei. Wer ihnen mit der Logik des Kalten Krieges begegnet, wie der Westen das immer noch tut, muss scheitern.“ Falsche Politik der EU

Schröder erinnert in diesem Zusammenhang an die Geschichte der Türkei-EU-Beziehungen – und kritisiert das Vorgehen der EU-Mitgliedsstaaten. „Wer die Erfüllung Dutzender Bedingungen zur Voraussetzung für die Visafreiheit erhebt, wer substantielle Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen zur EU oder auch bei der Aktualisierung von Zollvereinbarungen verschleppt, die aus den neunziger Jahren stammen, will sie eigentlich nicht.“

Keiner habe der Türkei je „so oft Beitrittsperspektiven eröffnet wie die Bundesrepublik“, erklärt Schröder, der die Glaubwürdigkeit des EU-Beitrittsprozesses offen in Frage stellt. „Ehrlich gemeint waren sie nie – sieht man einmal von der Endphase der rot-grünen Koalition ab.“ Schröder schreibt, es sei „weltfremd“ anzunehmen, „dass eine Regierung nach Recep Tayyip Erdoğan die türkische Außenpolitik grundsätzlich revidieren“ würde. Ankara werde auch künftig nicht auf die „neue Machtposition im östlichen Mittelmeer“ verzichten wollen: „Denn die Politik und Kriegführung der Türkei und anderer Staaten in einer vergleichbaren Lage ist aus ihrer Sicht auch eine Reaktion auf eine Drohkulisse des Westens, nämlich auf seine Weigerung, die mentalen Schützengräben des Kalten Krieges zu verlassen.“

Syrien-Konflikt nicht ohne Türkei und Russland lösbar

Schröder äußert sich in seinem Buch auch zu den Entwicklungen in Syrien. Der Bürgerkrieg und die Flüchtlingskrise könnten nicht ohne Ankara gelöst werden. Der Türkei trage daher eine Schlüsselrolle. „Ohne oder gar gegen Putin war und ist der Ukrainekonflikt, ohne Erdoğan war und ist die Flüchtlings- und Migrationskrise schwerlich zu beenden. Und der eine wie der andere hatten und haben auch ein entscheidendes Wort mitzureden, wenn es um die Beendigung des Syrienkrieges geht“, so Schröder.

„Die Beendigung des Syrienkrieges und damit das Abebben der Fluchtbewegung waren vor allem für Deutschland ein starkes Argument, um mit Erdoğan im Gespräch zu bleiben“, gab der Ex-Bundeskanzler zu bedenken. „Die Zeiten, in denen türkische Minister- und Staatspräsidenten unter entwürdigenden Umständen in Bonn beziehungsweise Berlin antichambrieren mussten, wenn sie um Beitrittsperspektiven für ihr Land zur Europäischen Union und um Visafreiheit für ihre Bürger nachsuchten, waren vorbei“.

Der Altkanzler erinnerte: „Nicht Recep Tayyip Erdoğan war 2016 Dauergast bei Angela Merkel, sondern die Bundeskanzlerin reiste im Monatsrhythmus zum türkischen Staatspräsidenten.“

Trump-Drohungen

Der Sozialdemokrat kritisierte auch die Drohungen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump gegen Ankara. Dieser hatte wegen eines Konflikts mit der „wirtschaftlichen Zerstörung“ des NATO-Partners Türkei gedroht. „Noch nie in der siebzigjährigen Geschichte der Atlantischen Allianz hat eines ihrer Mitglieder einem anderen so etwas angedroht“, schreibt Schröder.

„Dass Erdoğan darauf erstaunlich gelassen reagierte, hat seine Gründe. Zum einen hat die Türkei das eine oder andere Druckmittel in der Hand“, so Schröder. So seien die amerikanischen Streitkräfte auf den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik und den Radarstützpunkt Kürecik angewiesen. „Zum anderen besitzt die Türkei inzwischen eine beachtliche eigene Rüstungsindustrie.“

Dabei seien die „Rüstungsindustrie Ankaras und die zunehmende Abhängigkeit vieler Staaten der Region von ihren Produkten“ entscheidend auf dem Weg zum „Aufstieg zur regionalen Vormacht im östlichen Mittelmeer“.

Im neuen Debattenbuch von Schröder werden die Rolle Deutschlands, Europas und der NATO im Verhältnis zu Russland, China und den USA kritisch analysiert. In der Buchbeschreibung steht: „Der Westen liegt im Koma. Paralysiert und apathisch verfolgen Europäer und Amerikaner die weltweite epidemische Zunahme von Krisen, Kriegen und Konflikten aller Art.“ Das habe auch seinen Grund: „Die Staaten der westlichen Welt, die es so gar nicht mehr gibt, sitzen in überlebten Strukturen fest und bekommen jetzt die Quittung für die Fehler der Vergangenheit.“

TRT Deutsch