Wird die EU ihre strategische Kurzsichtigkeit überwinden können?
Sowohl das internationale System als auch die benachbarte geographische Peripherie der EU machen eine Zeit voller Unsicherheiten und Herausforderungen durch. Für die Bewältigung der Krisen rund um die EU ist die Türkei ein unverzichtbarer Partner.
(AFP)

Die durch die Covid-19 Pandemie verursachten Unsicherheiten und Herausforderungen werden im Jahr 2021 womöglich noch zunehmen. Dass sich die EU gerade jetzt immer stärker abschottet und Mauern um sich herum errichtet, wird die anstehenden Probleme nicht lösen, sondern im Gegenteil verschärfen. Damit die EU die Krisen in ihrem Umfeld bewältigen oder zumindest eindämmen kann, braucht sie die Türkei als unverzichtbaren Partner. Dabei scheinen die strategische Kurzsichtigkeit und der teilweise gelähmte Zustand der EU die einzigen Hindernisse zu sein.

Das EU-Abenteuer der Türkei

Das EU-Abenteuer der Türkei begann 1959 mit dem Antrag auf Mitgliedschaft beim damaligen Vorläufer der EU, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Tatsache, dass diese Historie trotz der verstrichenen 61 Jahre nicht zu einer Vollmitgliedschaft geführt hat, wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstrichen. Und während die Türkei immer noch an der Tür der EU wartet, beantragen im gleichen Zeitraum Dutzende Länder, einschließlich ehemaliger Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts, die Mitgliedschaft in der EU bzw. wurden sogar Vollmitglieder. Bei der Betrachtung der in der Vergangenheit von Höhen und Tiefen geprägten Beziehungen zwischen der Türkei und der EU wird klar, dass das Prozedere, das bei der Türkei angewendet wurde, keinem anderen Beitrittskandidaten oder Mitglied zugemutet wurde.

Die Auswirkungen der Rechtspopulisten auf die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU

Konservative und rechtspopulistische Kreise in Europa befürworten eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei, wobei sie ihre Argumentation insbesondere auf die kulturelle Differenz der Türkei stützen. Die genannten Kreise kolportieren die Türkei als vermeintlichen „Anderen“ der EU und machen dies, obwohl die Türkei ein säkularer Staat ist, an Religion und Kultur der mehrheitlich muslimischen Einwohner fest. Nicht nur, dass ein Staat mit einer Bevölkerung von 83 Millionen Menschen das Kräfteverhältnis innerhalb der Union ernsthaft verändern würde, sondern auch im Hinblick auf die Definition der eigenen Identität der EU wird eine Mitgliedschaft der Türkei als Herausforderung angesehen. Offensichtlich ist, dass diese Kreise, welche die EU als eine auf der christlich-jüdischen Kultur errichtete Union sehen, die Tatsache ignorieren, dass Islam und Muslime bereits in der Geschichte und gegenwärtig auch durch die Migration Teil Europas waren und sind. Eine EU mit der Mitgliedschaft der Türkei wäre ohne Zweifel eine umfassendere Gemeinschaft. Es liegt auf der Hand, dass die EU angesichts des aufkommenden Rechtspopulismus gegenwärtig nicht bereit für eine solche Transformation ist. Dies ist zugleich das größte Hindernis beim EU-Beitrittsprozess der Türkei.

Bilaterale Beziehungen zwischen der Türkei und der EU

Die aktuelle Literatur über die bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU wird von eurozentrischen und vereinfachenden Ansätzen dominiert. Im Allgemeinen werden die Beziehungen im Hinblick auf Entwicklungen in der türkischen Innenpolitik bewertet, indem kommuniziert wird, was die Türkei richtig oder falsch macht, um anschließend daraus „Hausaufgaben“ zu formulieren. Dabei sollten für die Bewertung, wie bei allen bilateralen Beziehungen, drei Ebenen Berücksichtigung finden: Die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei und die in der EU sowie die Entwicklungen in der internationalen Politik. Aufgrund des Bewerberstatus herrscht eine asymmetrische Beziehung zwischen der Türkei und der EU. Diese Asymmetrie führt dazu, dass Auswirkungen der innenpolitischen Entwicklungen in der EU in der Regel nicht beachtet werden. Über den türkischen Aspekt der Beitrittsgeschichte ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Schauen wir uns die Entwicklungen in der EU und im internationalen politischen System an.

Es ist klar, dass der wichtigste Faktor, der die bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU maßgeblich beeinflussen wird, die Veränderungen im internationalen politischen System sind. Wir wurden Zeugen, wie in den letzten 30 Jahren gravierende Zäsuren und Machtverschiebungen den Rahmen verändert haben, beispielsweise das Ende des Kalten Krieges, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der Aufstieg Chinas und zuletzt die Covid-19 Pandemie. Das Ende des Kalten Krieges wurde vor genau 30 Jahren eingeläutet, und vor genau 15 Jahren begannen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Seitdem entstanden eine komplett neue EU und eine komplett neue Türkei. Weder die Türkei noch die EU sind heute das, was sie einmal waren, denn beide Akteure und auch das übrige internationale politische System sind nicht statisch, sondern befinden sich in einer Phase des dynamischen Umbruchs.

EU-Türkei-Beziehungen im Lichte der internationalen Entwicklungen

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das Ende der Geschichte proklamiert; heute gibt es starke Tendenzen dafür, dass von einer Weltordnung unter der Hegemonie der USA nun hin zu einer multipolaren Welt vorangeschritten wird. Offenkundig ist, dass eine neue Weltordnung hergestellt wird und die Pandemie diesen Prozess beschleunigt. Welche Rolle innerhalb dieses unabsehbaren, internationalen politischen Systems schreibt sich die EU zu, die von Krisen und Bürgerkriegen umgeben ist und deren Stabilität von Migration, Flüchtlingen und Terror bedroht ist? Vor allem während der Trump-Ära wurde deutlich, dass die EU der regulatorischen Rolle der USA nicht auf ewig vertrauen kann. Aus dieser Perspektive scheint es für die EU unumgänglich, mit einem Akteur wie der Türkei gemeinsam zu agieren, um Krisen entgegenzuwirken oder zumindest einzudämmen. Trotz dieser Umstände scheint in der EU jedoch eine strategische Kurzsichtigkeit zu dominieren. Die EU möchte womöglich ihre Beziehungen mit der Türkei noch immer aus der oben genannten asymmetrischen Perspektive betrachten und kann dadurch nicht schnell auf aufkommende Krisen an ihren Grenzen reagieren und sich den neuen Bedingungen nicht anpassen. In Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik befindet sich die Union in einem teilweise gelähmten Zustand.

Während diese Umwälzungen nach dem Kalten Krieg eintraten, fand in der europäischen Politik ein rasanter Wandel statt. Der Multikulturalismus wurde für bankrott erklärt, rechtsextreme Parteien werden in den Parteienlandschaften als normal erachtet und bezüglich der EU-Erweiterung ist eine Müdigkeit spürbar geworden. Infolgedessen schottete sich die EU immer mehr ab und begann Mauern um sich herum zu errichten, Obwohl in den 1990er und 2000er Jahren seitens der EU eine ständige Erweiterung und Integration angestrebt wurde, schottete sie sich immer mehr ab und begann nach der Wirtschaftskrise 2009, Mauern um sich herum zu errichten. Selbst wenn die Türkei alle von der EU geforderten Auflagen erfüllen würde, erscheint eine Mitgliedschaft aufgrund der komplexen Lage, in der sich die EU befindet, schwierig.

Nichtsdestotrotz besteht gegenwärtig zwischen der Türkei und der EU in vielen Bereichen, zum Beispiel Wirtschaft, Sicherheit, Migration oder Flüchtlinge, ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Aus diesem Grund können sich beide Akteure nicht den Luxus leisten, sich den Rücken zuzukehren. Diese Notwendigkeit und das langfristige, strategische Ziel der Türkei, der EU als Vollmitglied beizutreten, bilden gegenwärtig das Fundament der Beziehungen, auch wenn die Verhandlungsgespräche eingefroren sind. Man kann nicht behaupten, dass die gegenseitige Abhängigkeit zu einer strategischen Zusammenarbeit geführt hätte. Selbst wenn eine solche momentan nicht existiert, ist der vernünftigste Weg – abgesehen von den ideologischen Vorurteilen oder irrationalen Ängste der EU– im beidseitigen Interesse die Maximierung der Beziehungen. Dabei treten die Fragen zur Zollunion und zur Liberalisierung der Visumsangelegenheiten in den Vordergrund. Mit der Modernisierung der Zollunion könnten beide Akteure vor allem in der Zeit nach der Pandemie wichtige Profite einfahren. Die Erleichterungen beim Visum könnten die zwischenmenschlichen Beziehungen stärken und dabei behilflich sein, das beschädigte Image der EU aufzupolieren. Zudem wäre dies für die Türkei ein sehr positives Signal für die Fortdauer des Mitgliedschaftswunsches.

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