Der Nato-Gipfel in Madrid und das „Drei-Parteien-Memorandum“
Mit dem Madrider Nato-Gipfel und dem Drei-Parteien-Memorandum wurde eine wichtige Hürde in Bezug auf Integrität und Kohärenz des NATO-Bündnisses genommen. Doch der Weg zur Mitgliedschaft von Schweden und Finnland wird nicht einfach sein.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach dem NATO-Gipfel in Madrid vor Reportern (AA)

Russlands „Militär-Operation“ in der Ukraine hat zweifellos tiefgreifende Folgen in Bezug auf die europäische Sicherheits- und Geopolitik. So sehr, dass selbst die seit Jahrhunderten neutrale Schweiz entgegen ihrem Status einige der US-initiierten Sanktionen gegen Russland mitgetragen hat. Darüber hinaus haben Schweden und Finnland, die selbst während des Kalten Krieges keine NATO-Mitglieder waren, angesichts der neuen „russischen Bedrohung“ die Mitgliedschaft beantragt. An diesem Punkt rücken viel „unbedeutendere“ und vergleichsweise „kleinere“ Probleme, die einer NATO-Erweiterung im Weg stehen, hinter Themen mit makroökonomischer Bedeutung, etwa die Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland oder die bedrohte Sicherheit Europas zurück. Türkiye hat als eines der ältesten und wichtigsten Mitglieder des Bündnisses wiederholt darauf hingewiesen, dass man einem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands skeptisch gegenübersteht und nicht „zustimmen“ wird, wenn beide Staaten nicht wichtige politische Änderungen vornehmen. Da es derzeit um existenzielle Themen wie die Bündnis-Erweiterung und die europäische Sicherheit geht, sind die derzeitigen Debatten nicht nur eine „bilaterale“ Angelegenheit zwischen Türkiye, Schweden und Finnland, sondern entfalten eine Dynamik, die andere NATO-Mitglieder, hier vor allem die USA, direkt betrifft und mobilisiert.

Wie ist das Dreier-Memorandum zustande gekommen?

Aufgrund der Bedeutung des Themas über das Verhältnis von Türkiye, Schweden und Finnland hinaus bemühten sich die anderen Mitglieder des Bündnisses, hier wieder insbesondere die USA, die Parteien zu überzeugen und zu einer für alle akzeptablen gemeinsamen Basis zu führen. Man geht davon aus, dass die Überzeugungsarbeit der USA und weiterer NATO-Mitglieder Wirkung gezeigt hat, um letztlich den „Knoten“ zwischen Türkiye, Schweden und Finnland auf dem NATO-Gipfel in Madrid zu lösen. Erdoğans Telefonat mit Biden, das er vor seiner Abreise zum Madrider Gipfel erwähnte, lässt dies zumindest vermuten. Auch war Bidens im Rahmen des Madrider Gipfels wiederholt geäußerte Unterstützung für den Verkauf einer neuen F-16-Flotte an Türkiye ein Indiz dafür, dass sich Erdoğan und Biden in Bezug auf die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands „auf einen gemeinsamen Nenner“ einigen konnten.

Obwohl die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands sowohl ethisch als auch im Hinblick auf die nationalen Interessen von Türkiye problematisch ist, hat sie doch mit Blick auf die bilateralen Beziehungen Türkiyes zu den Vereinigten Staaten eine weitere große Bedeutung. Mit der von ihr ins Spiel gebrachte „Vetokarte“ forderte Türkiye einerseits Schweden und Finnland auf, notwendige politische Änderungen einzuleiten und konnte darüber hinaus einfordern, dass ihre Bedeutung für das Bündnis sowohl von der NATO als auch von Washington gesehen und entsprechend gewürdigt wird. Türkiye braucht diese „Würdigung“, um den in den letzten Jahren stärker gewordenen anti-türkischen Tendenzen in der NATO, der EU und den USA entgegenzuwirken und diese, wenn möglich, ins Gegenteil zu verkehren.

Hauptgrund für die Unterzeichnung des Dreier-Memorandums durch Türkiye, das letztlich grünes Licht für die NATO-Mitgliedschaft von Schweden und Finnland gibt, ist am Ende, dass beide Länder sämtliche türkischen Forderungen in das Memorandum aufgenommen haben. Es hätte unter diesen Umständen keinen Sinn gemacht, sich einem Abkommen zu verweigern, wenn doch Türkiye erreicht hat, was sie von ihren Gesprächspartnern verlangt hatte.

Ist das Memorandum ein diplomatischer Sieg für Türkiye?

Betrachtet man die Einschätzungen derer, die sich vehement gegen die von Schweden und Finnland in dem Memorandum zugebilligten Zusagen stellen, verfestigt sich der Eindruck, dass „Schweden und Finnland sich allen türkischen Forderungen gebeugt haben“ und als Verlierer dastehen. Ebenso stützt die Tatsache, dass selbst Medien, die gemeinhin für ihre „Anti-Erdoğan“-Linie bekannt sind, nach Unterzeichnung des Dreier-Memorandums von „Erdoğans Triumph“ sprechen, den Eindruck, dass Türkiye der eigentliche Gewinner dieses Abkommens ist. Bedenkt man zudem, welche Zugeständnisse das Memorandum vorsieht, kann man unabhängig von den Pro- und Contra-Reaktionen durchaus von einem diplomatischen Sieg von Türkiye sprechen. Denn von der Neuordnung der jeweiligen Terrorgesetzgebungen über die Einstellung jeglicher Unterstützung für nunmehr als Terrororganisationen bewertete Strukturen von PKK, YPG und FETO bis hin zur Erfüllung von Auslieferungsersuchen seitens Türkiye und dem Ende des Embargos gegen die Verteidigungsindustrie wird die Erfüllung aller im Vorfeld von Türkiye gestellten Bedingungen von Schweden und Finnland in dem Dokument zugesagt.

Selbstverständlich wurden einige Passagen in dem Memorandum zugunsten Schwedens und Finnlands aus Sicht von Türkiye „vage“ gehalten und bleiben damit „mehrdeutig“. Die Existenz dieser mehrdeutigen Stellen ist jedoch auch ein wesentlicher Bestandteil der Diplomatie. Denn bei diplomatischen Verhandlungen kann keine Seite, auch wenn sie sich dies natürlich wünscht, die eigenen Forderungen zu 100 % durchsetzen. Denn am Ende müssen die Beteiligten, die hier Zugeständnisse machen, sich der öffentlichen Meinung und der Opposition im eigenen Land stellen und in Betracht ziehen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aus diesem Grund müssen Einigungen so genannte „offene Türen“ beinhalten, damit die Vertragsparteien, die einem Abkommen zustimmen, die dort gebilligten Artikel auch mit Blick auf die öffentliche Meinung im eigenen Land verteidigen können. Dies unterscheidet diplomatische Siege von militärischen Siegen, die am Ende demütigend für die unterlegene Partei sind und den Gegner zur vollständigen Kapitulation zwingen.

Obwohl mit dem Madrider Gipfel und dem Dreier-Memorandum eine wichtige Hürde in Bezug auf die Integrität und Kohärenz des NATO-Bündnisses genommen wurde, wird der Prozess, der am Ende zur Mitgliedschaft von Schweden und Finnland führen soll, nicht einfach werden. Es ist leicht vorherzusehen, dass Schweden und Finnland, wenn sie die Forderungen von Türkiye buchstabengetreu umsetzen wollen, bezüglich der internen öffentlichen Debatten einem starken Druck ausgesetzt sein werden, insbesondere von bestimmten Interessengruppen. So gesehen könnte dieser Druck die Entschlossenheit der Verantwortlichen in den beiden Staaten schwächen, die Vertragsartikel umzusetzen und damit Unzulänglichkeiten hinsichtlich der Erfüllung ihrer Verantwortlichkeiten offenbaren. Diese Problematik wird natürlich von Türkiye gesehen und kann am Ende dazu führen, dass Schwedens und Finnlands NATO-Mitgliedschaft nicht ratifiziert wird. Um ungewollte „Wege-Unfälle“ in diesem sensiblen Prozess zu verhindern, müssen Türkiye, Schweden und Finnland einen engen und konstruktiven Dialog führen, bis der Beitrittsprozess abgeschlossen ist.

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