Polizeigewalt in Deutschland: Aufgebauschtes Problem oder Tabuthema?
Die brutale Festnahme eines türkischstämmigen 13-Jährigen in Duisburg bringt das Thema Polizeigewalt in Deutschland zurück in den Fokus. Die Polizei genießt in der Gesamtbevölkerung Vertrauen – bei Eingewanderten ist dieses jedoch oft beschädigt.
Symbolbild (DPA)

von Max Dunkel

Das brachiale Einsteigen zweier Polizeibeamter gegen den erst 13-jährigen Emirhan Altıntaş am Dienstag der Vorwoche in Duisburg hat eine neue Debatte über Polizeigewalt in Deutschland ausgelöst. Der Junge soll zuvor zwei Wahlplakate beschädigt haben. Videoaufnahmen der Festnahme verbreiteten sich in sozialen Medien viral.

In den vergangenen Jahren ist die Polizei in Deutschland von mehreren Seiten in die Kritik geraten. In der Zeit der Corona-Maßnahmen warfen deren Befürworter den Beamten vor, zu wenig entschlossen Demonstrationen von Maskenverweigerern und Impfgegnern zu unterbinden. Diese wiederum warfen ihr brutales Einschreiten gegen Kundgebungsteilnehmer vor. Dazu kamen mehrere Skandale rund um Rechtsextremismus und verfassungsfeindliche Äußerungen in Chatgruppen.

Trotz allem bleibt die Polizei in Deutschland noch eine jener Institutionen, die in der Öffentlichkeit über das meiste Vertrauen genießt. Nach einem Zwischentief von 78 Prozent im Frühjahr 2021 gaben im vergangenen Winter bereits wieder 82 Prozent der Befragten im Rahmen einer repräsentativen Studie an, der Polizei zu vertrauen.

Deutlich mehr Todesfälle bei Polizeieinsätzen in den USA

Dennoch tragen Vorfälle wie jene von Duisburg zu einer Eintrübung des Bildes bei, das die Exekutivbeamten in der Öffentlichkeit genießen. Dies gilt vor allem für Angehörige vulnerabler Gruppen wie ethnischer oder religiöser Minderheiten, die prozentual wesentlich häufiger Gefahr laufen, zum Ziel von Polizeiübergriffen zu werden, als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Zumindest die Gefahr, bei einem Polizeieinsatz getötet zu werden, ist in Deutschland der Statistik zufolge verhältnismäßig gering. Die Zahl der Menschen, die zwischen 1990 und 2019 von der Polizei in Deutschland erschossen wurden, schwankte zwischen 3 im Jahr 2003 und 21 im Jahr 1995. In den letzten Jahren der 2010er pendelte sich die Zahl zwischen 11 und 14 ein. In den USA starben demgegenüber in den Jahren 2015 und 2021 zwischen 957 und 1055 Personen durch eine Polizeiwaffe – bei etwa vier Mal so vielen Einwohnern.

Allerdings soll es eine hohe Dunkelziffer nicht geahndeter Fälle von Polizeigewalt unterhalb dieser Schwelle geben. Dies legt zumindest eine Hochrechnung nahe, die auf einer jüngst vorgelegten Untersuchung der Ruhruniversität Bochum unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein beruht. Mehrere deutsche Medien berichteten.

Grundannahme, dass Anzeigen gegen Polizisten unberechtigt sind?

Den Erkenntnissen zufolge soll es jährlich mindestens 12.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamte in Deutschland geben – obwohl nur ein Fünftel tatsächlich angezeigt würde. Offiziell würden pro Jahr mindestens 2000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamte von den Staatsanwaltschaften bearbeitet.

Zu einer strafrechtlichen Aufarbeitung in Form einer Anklage käme es allerdings lediglich in zwei Prozent der Fälle, weniger als ein Prozent endeten mit einer Verurteilung, erklärt Singelnstein – da oft das Wort der Bürger gegen das der Beamten stehe.

Die Staatsanwaltschaften wollten – so der Studienleiter – ihr Verhältnis zur Polizei nicht belasten. Zudem gäbe es dort „die Grundannahme, dass Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt in der Regel unberechtigt seien“.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) selbst weist eine deutlich rückläufige Tendenz bezüglich der Körperverletzungsdelikte im Amt aus. So sei die Zahl der angezeigten Verdachtsfälle von 2196 im Jahr 2009 auf 1500 im Jahr 2019 zurückgegangen – und dabei seien auch nichthoheitliche Amtsträger wie zum Beispiel Beschäftigte der Feuerwehr erfasst.

Zudem seien die Beamten selbst mit einer steigenden Zahl an kriminellen Übergriffen konfrontiert. Während die Zahl der Fälle von Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt 1993 bei 18.293 gelegen habe, habe sich diese auf 36.959 im Jahr 2019 fast verdoppelt.

Allerdings habe sich die Zahl von Gewalttaten in diesem Kontext auf etwa 5000 Fälle einfacher oder schwerer Körperverletzung gegen Polizeivollzugsbeamte reduziert – im Jahr 2011 wurde in etwa der dreifache Wert davon in Statistiken ausgewiesen.

NSU-Ermittlungen als nachhaltiges Schockerlebnis?

Auch wenn es nach wie vor einen hohen Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung insgesamt gegenüber der Polizei gibt und dieser auch essenziell für die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats ist, ist es ebenso essenziell, Hinweisen auf Faktoren hinzugehen, die diesen erschüttern können – auch innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen.

Für viele Einwanderer, vor allem türkische, hatte das Auffliegen der NSU-Terrorzelle dieses Vertrauen in die Polizei nachhaltig erschüttert. Es erscheint heute noch vielen als widersinnig, wie über Jahre hinweg konsequent alle Gedanken an eine mögliche rassistische Motivation der Mordserie verworfen und stattdessen die Opferfamilien selbst drangsaliert wurden.

Dazu kamen eine eingeschränkte Bereitschaft zur Aufarbeitung der falschen Ermittlungsansätze bis hin zum Vertuschungsverdacht im Kontext verschwundener oder vernichteter Akten. Rechtsextremistische Vorfälle rund um Polizeichats oder die „NSU 2.0“-Drohbriefe trugen ebenfalls zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Polizei unter Menschen mit Einwanderungsgeschichte bei.

Seit 2005 vier Nichtweiße im Polizeigewahrsam verstorben

Antirassistische Initiativen weisen zudem darauf hin, dass es in Deutschland innerhalb der vergangenen Jahre zu mindestens zehn verdächtigen Todesfällen von Nichtweißen in Polizeigewahrsam, bei Polizeieinsätzen oder in staatlichen Einrichtungen gekommen sei. In einigen Fällen, so berichtete bereits 2020 der „Tagesspiegel“, hege man den Verdacht, dass die Begebenheiten bei Weißen einen anderen Verlauf genommen haben könnten.

Vier Menschen starben in Polizeizellen – der bekannteste Fall ist jener des Asylbewerbers Oury Jalloh aus Sierra Leone, der sich 2005 trotz Fesselung selbst in einer Zelle in Dessau angezündet haben soll. Obwohl mehrere Gutachten die Möglichkeit einer solchen Ereignisabfolge in Zweifel zogen und auf Misshandlungen vor dem Tod hinwiesen, kam es zu keiner Anklage wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts.

Weitere Fälle unter klärungsbedürftigen Umständen verstorbener Asylbewerber im Polizeigewahrsam waren der Gambier Yaya Jabbi 2016 in Hamburg, der Syrer Amad Ahmad 2018 in Kleve und der Somalier Rooble Warsame 2019 in Schweinfurt.

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TRT Deutsch