Eine hohe Gewaltneigung unter Extremisten in Deutschland macht dem Verfassungsschutz große Sorgen. Eine deutliche Warnung spricht der Inlandsgeheimdienst in seinem jährlichen Bericht auch zu Spionage- und Einflussnahmeversuchen Chinas aus. Vorgestellt wurde der Verfassungsschutzbericht 2022 am Dienstag in Berlin - fast zeitgleich mit dem Auftakt der deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen.
- Rechtsextremismus: Die Zahl der Menschen, die dem rechtsextremistischen Spektrum zugeordnet werden, stieg im Vergleich zum Vorjahr um rund 14,5 Prozent auf 38 800. Einer der Gründe dafür ist, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nun auch Angehörige der AfD hinzurechnet: Sie wird inzwischen als Verdachtsfall beobachtet. Die Einstufung als Verdachtsfall hatte das Kölner Verwaltungsgericht im März 2022 bestätigt. Die AfD legte Berufung ein. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.
Der Verfassungsschutz erklärt seine Berechnungen so: „Nach eigener Aussage hatte die Partei im Juli 2022 circa 28.500 Mitglieder. Angesichts der weiterhin bestehenden inhaltlichen Heterogenität innerhalb der Partei können allerdings nicht alle Parteimitglieder als Anhänger der extremistischen Strömungen betrachtet werden.“ Das Bundesamt schätzt, dass 10.200 Mitglieder der AfD und ihrer Parteijugend (Junge Alternative) diesen Strömungen zuzurechnen sind.
Sorgen macht dem Inlandsgeheimdienst, dass sich in Internet-Foren der „Attentäter-Fanszene“ oftmals sehr junge Menschen radikalisieren und gegenseitig zu Gewalttaten aufstacheln.
- Neue Kategorie: Der Verfassungsschutz hatte 2021 den neuen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ definiert. Der Entschluss, die Kategorie zu etablieren, war auch eine Folge der Aktionen radikaler Gegner der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen. Jetzt legt der Verfassungsschutz erstmals Zahlen dazu vor. Der Inlandsgeheimdienst sieht hier ein Potenzial von rund 1400 Menschen bundesweit. Etwa 280 Menschen aus diesem Spektrum werden als gewaltorientiert eingestuft. Dabei geht es um Menschen, die nicht dem klassischen Rechts- oder Linksextremismus zuzuordnen sind, und nach Einschätzung des Verfassungsschutzes versuchen, „Krisensituationen und Ängste in der Bevölkerung zu instrumentalisieren, um staatliche Stellen und politische Verantwortungsträger zu diskreditieren“.
- Schwierige Abgrenzung: „Wir stellen fest, dass Grenzen innerhalb von Phänomenbereichen verschwimmen und sich Mischszenen bilden“, teilte BfV-Präsident Thomas Haldenwang mit.
- Extremismus: Haldenwang berichtet weiter, die Bedrohung durch extremistischen Terrorismus sei nach wie vor hoch. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erinnerte an Festnahmen in jüngster Zeit: Sicherheitsbehörden hätten in diesem Jahr bereits zwei mögliche terroristische Anschläge in Castrop-Rauxel und in Hamburg verhindert.
- Linksextremismus: Das linksextremistische Potenzial wuchs laut Verfassungsschutz im vergangenen Jahr um 5,2 Prozent auf 36.500 Menschen an. Eine große Gefahr geht demnach von kleinen, im Geheimen agierenden Gruppen aus, die mit großer Brutalität insbesondere gegen den politischen Gegner, insbesondere Rechtsextremisten, vorgehen. Linksextremistische Gewalt richte sich aber auch gegen Polizeikräfte, die teilweise in Hinterhalte gelockt würden. Haldenwang verwies auf einen Fall in Leipzig, wo eine Flasche mit brennbarer Flüssigkeit auf einen Polizisten geworfen worden sei. „Wäre der Polizist getroffen worden, man weiß nicht, wie es ausgegangen wäre“, sagte er.
- Gewalt: Mehr als jeder vierte Linksextremist in Deutschland wird vom Verfassungsschutz als gewaltorientiert angesehen. Nach einem Anstieg um 3,7 Prozent gab es den Angaben zufolge im vergangenen Jahr zudem rund 14.000 gewaltbereite Rechtsextremisten.
Die meisten von Linksextremisten verübten Gewalttaten (173) wurden 2022 aus Sachsen gemeldet. Im gleichen Zeitraum wurden im Freistaat 58 rechtsextremistische Gewalttaten erfasst. Die höchste Zahl an Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund (136) gab es laut Statistik in Berlin. „Wir müssen genau hinschauen, wenn große regionale Unterschiede bei der Erfassung bestimmter Phänomenbereiche wie dem Rechtsextremismus und Linksextremismus vorliegen“, meint der Obmann der Grünen im Innenausschuss des Bundestages, Marcel Emmerich. Er findet: „Die vorliegenden Zahlen sorgen für Fragezeichen“. Auch mit Blick auf Sachsen warnt er: „Es wäre fatal, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird und dadurch insbesondere Gewalttaten von rechts nicht als solche erfasst werden, obwohl die rechtsextreme Szene dort nach allem, was wir wissen, stark vertreten ist.“
- Spionage und ausländische Einflussoperationen: Nicht nur als Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine gab es 2022 mehr Spionagefälle. Der Generalbundesanwalt leitete dazu 28 Ermittlungsverfahren ein, nach 25 Verfahren im Vorjahr. Sie richteten sich etwa gegen mutmaßliche Zuträger russischer, türkischer und marokkanischer Geheimdienste. Russische Nachrichtendienste bedienten sich teilweise drastischer Methoden und schreckten in äußerster Konsequenz auch nicht vor der Tötung von Oppositionellen und Abtrünnigen zurück, sagte der BfV-Präsident. „Diese sehr robuste Art des Vorgehens, so etwas sehen wir bei Chinesen nicht.“
- China: Dennoch enthält der Bericht eine sehr eindringliche Warnung zu China. Der Verfassungsschutz hält die Volksrepublik derzeit für „die größte Bedrohung in Bezug auf Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage sowie ausländische Direktinvestitionen in Deutschland“. Staatliche chinesische Akteure versuchten, „führende Persönlichkeiten aus der deutschen Wirtschaft unter Ausnutzung der Abhängigkeit einzelner deutscher Unternehmen vom chinesischen Markt“ für die Durchsetzung der Interessen der Kommunistischen Partei Chinas zu instrumentalisieren.
- Unterschiedliche Schlüsse ziehen die Oppositionsparteien im Bundestag aus dem aktuellen Bericht: Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel beklagte, dass der Verfassungsschutz „die AfD nicht fair behandelt“. Martina Renner (Linke) forderte „ein stärkeres Vorgehen gegen den Populismus der Mitte und deren rohe Bürgerlichkei“ ein. Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz (CSU), sagte, Faeser mangele es an Konzepten, etwa um einer Radikalisierung von Islamisten und Linksextremisten entgegenzuwirken. Um zum Beispiel die Netzwerke islamistischer Terroristen besser aufklären zu können, müsse das Bundeskriminalamt mehr Befugnisse erhalten für den Zugriff auf gespeicherte Kommunikation über Messengerdienste wie WhatsApp.