Ifo: Existenzangst in der deutschen Wirtschaft steigt / Photo: DPA (dpa)
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Die Aussicht auf eine deutlich wachsende Wirtschaftsleistung in Deutschland wird immer unwahrscheinlicher. Die deutsche Wirtschaft ist im vierten Quartal 2022 anders als erwartet geschrumpft. So sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Oktober bis Dezember gegenüber dem Vorquartal um 0,2 Prozent. Viele Politiker und Ökonomen hatten mit einer Stagnation, jedoch nicht mit einem Minus gerechnet. In den ersten drei Quartalen 2022 war das BIP trotz Corona-Pandemie, Energiekrise und Anstiegs des Preisniveaus noch gewachsen. Aufgrund der neuen Werte revidierten die Statistiker die Schätzungen für das Gesamtjahr nach unten. Das BIP wuchs im letzten Jahr nach den neuen Erkenntnissen nur um 1,8 Prozent. Auch der Verfall der Reallöhne hat sich weiter befeuert. 2022 sanken die Reallöhne das dritte Jahr in Folge. Gegenüber 2021 sanken die Löhne um 4,1 Prozent. Die Hiobsbotschaften in der Wirtschaft wirken sich negativ auf die Gemütsverfassung vieler Verbraucher aus. Einer aktuellen Studie zufolge sind die Deutschen im europäischen Vergleich pessimistisch eingestellt, was ihre wirtschaftliche Lage betrifft. Wie die F.A.Z. berichtet, glauben demnach 43 Prozent der Deutschen, dass sich ihre finanzielle Lage weiter verschlechtern werde. Der Anteil derjenigen Bundesbürger, deren Sorgen wegen der Inflation zunehmen, liegt damit um zehn Prozentpunkte höher als im gemessenen europäischen Durchschnitt. Sind diese Faktoren möglicherweise Anzeichen für eine wirtschaftliche Zeitenwende in Deutschland?

Steht eine ökonomische Zeitenwende bevor?

Das Wort Zeitenwende ist in aller Munde. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hatte den Begriff zum Wort des Jahres 2022 gekürt. Der Begriff wurde insbesondere durch Politiker unterschiedlicher Couleur in Anlehnung an den russisch-ukrainischen Krieg gewählt und so in Umlauf gebracht. Gewiss lässt sich das Wort nicht nur auf Politik sowie Krieg und Frieden anwenden, sondern auch auf andere Bereiche übertragen. So sprach auch die staatliche Förderbank KfW wegen des Fachkräftemangels in Deutschland und die damit gefährdete Wohlstandsentwicklung von einer Zeitenwende, die durch unterschiedliche Faktoren begünstigt werde.

KfW sieht Wohlstand gefährdet

In einem Forschungsbericht mit dem Titel „Zeitenwende durch Fachkräftemangel: Die Ära gesicherten Wachstums ist vorbei“, erläuterte Martin Müller, dass das Fehlen von Fachkräften bereits die Produktivität und Geschäftstätigkeit jedes zweiten Unternehmens in Deutschland hemme. So habe sich die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem seit 2012 nur um 0,3 % pro Jahr erhöht. Neben der Produktivität sieht die KfW das derzeitige Renteneintrittsalter in der Bundesrepublik als ein Problem für die wirtschaftliche Entwicklung. „Wollte man den Rückgang des Fachkräfteangebots durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der Altersklasse 65+ erreichen“, so Müller, „müsste die Erwerbsquote dieser Altersklasse bis 2035 von derzeit 8 % auf 27 % steigen.“ Die Erhöhung des regulären Renteneintrittsalters auf 67 Jahre bewirke nämlich zu wenig.

Hebel für mehr Produktivität

Als mögliche Lösungswege für mehr Wachstum sieht Müller nicht nur die Zuwanderung ausländischer Erwerbstätiger, sondern auch die „Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Inländern, insbesondere von Frauen.“ Als weitere Hebel für eine Produktivitätssteigerung werden in dem KfW-Gutachten die Automatisierung menschlicher Tätigkeiten, effizientere Arbeitsabläufe sowie verbesserte Rahmenbedingungen für Investitionen in Sach- und Humankapital und Innovationen genannt. Die bei vielen Arbeitnehmern und Gewerkschaften umstrittene Verlängerung der Arbeitszeit ist ein weiteres Merkmal, das von der KfW angepriesen wird. Erst wenn alle diese Eigenschaften zusammen in Einklang gebracht werden könnten, würden sie ihre Wirksamkeit entfalten. Einige dieser empfohlenen Instrumente zur Wachstumssteigerung erinnern an die neoliberalen Werkzeuge zu Zeiten der kapitalistischen Hochphasen der 90er Jahre. Erstens hat auch das Wachstum eine Grenze und kann nicht unendlich weitergehen. Anders formuliert: Man muss auch mal einen oder mehrere Schritte zurückgehen können, um wieder voranzukommen! Unendlich steigende Produktion und grenzenloser Konsum machen sicher Wirtschaftsbosse, Anleger und Großinvestoren glücklich. Aber für die Gesamtgesellschaft bringt dies nicht immer nur Vorteile. Wir alle zahlen dafür einen großen Preis: Schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, Ausweitung der Arbeitszeit, Ausbeutung von Arbeitskräften, Vernichtung von Umweltressourcen und vieles mehr.

Qualifikation und Bildung als Grundlage für mehr Wachstum

Was dem Autor der Studie für die derzeitige Situation, aber auch für die Zukunft des ökonomischen Wachstums Kopfschmerzen bereitet, ist die zunehmende Fachkräfteknappheit in MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), Pflege- und Gesundheitsberufen sowie anderen Berufen der Grundversorgung. Eine solide Grundlage für mehr Wohlstand und Wachstum ist die berufliche- und fachliche Qualifizierung jedes Einzelnen. Die Erwerbstätigen sollten zum lebenslangen Lernen und zur Weiterbildung motiviert werden. „Auch Nachqualifizierung und Vermittlung von Deutschkenntnissen für Zuwandernde müssten vermehrt und schneller erfolgen.“ Positiv bewertet die KfW-Studie bereits auf den Weg gebrachte Maßnahmen zur „besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, vermehrter Einsatz digitaler Fähigkeiten, die veränderte Strategie der Arbeitsmarktpolitik auf mehr Aus- und Weiterbildung sowie die „Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes.“

Digitalisierungsoffensive

Bei der digitalen Entwicklung hinkt Deutschland im internationalen Vergleich anderen Staaten hinterher. Beispielsweise im sogenannten „eGovernment“, also dem Digitalisierungsgrad der Behörden, liegt Deutschland im europäischen Vergleich unter 35 Staaten lediglich auf Platz 21. Länder wie die Türkei (Platz 16), Spanien (Platz 11) oder Portugal (Platz 12) sind in der Digitalisierung weiter als die Bundesrepublik. Im Ranking der Digitalisierung von Unternehmen steht Deutschland international jedoch besser da (Platz 17). Damit die digitale Offensive Deutschlands nicht verpufft, muss aber die technische Infrastruktur in den Firmen oder den öffentlichen Einrichtungen stärker vorangetrieben werden. Hier gibt es Handlungsbedarf. 94 Prozent der Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik attestierten Deutschland beim Digitalreport 2022, dass es im Bereich der Digitalisierung rückständig sei. Außerdem gaben 98 Prozent der Befragten an, dass die Digitalisierung im staatlichen Bereich unterentwickelt sei. Als Lösung der misslichen Lage, in der sich Deutschland befindet, fordern Fachleute, „die Potenziale der digitalen Technologien stärker an die Bürger“ zu kommunizieren. Start-ups und Zukunftstechnologien sollten stärker als bisher finanziell gefördert werden. Zuletzt sollte der Staat Veränderungen (Transformation) unterstützen und Beschränkungen verringern. „So könnten Schulen und Hochschulen virtuelle Realität in der Lehre einsetzen. Zehn Prozent der Infrastruktur-Investitionen könnten in Zukunftsprojekte wie Drohnen oder Hyperloop gesteckt werden“, fordern die Experten.

Es stehen gewiss nützliche Instrumente bereit, die wirtschaftliche Zeitenwende in Deutschland in den Griff zu bekommen. Mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten kann der Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland wieder an Qualität gewinnen.

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