20.09.2022, USA, New York: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat vor den Teilnehmern der 77. UN-Generalversammlung gesprochen. (AA)
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In dieser Woche tagte wieder die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Alle 193 UNO-Mitglieder haben in diesem Gremium eine Stimme. Wer vor diesem Forum spricht, richtet sein Wort an die Welt. In den optimistischen Anfangsjahren der UNO stand die Rednerbühne im Zentrum der Berichterstattung.

Je mehr Staaten infolge der Dekolonialisierung unabhängig wurden und in die UNO als Mitglieder aufgenommen wurden – man denke nur an die Veränderungen auf dem afrikanischen Kontinent in den 1950er und 1960er Jahren –, umso mehr wanderten die Entscheidungen von der Generalversammlung, wo gewissermaßen alle UNO-Mitglieder ebenbürtig sind, in den Sicherheitsrat. Letzter spiegelt seit 1945 die Machtverhältnisse jener Ära wider. Die fünf Siegermächte verfügen über ein Veto und können somit die wesentlichen Entscheidungen, etwa Maßnahmen zur Durchsetzung des Völkerrechts, blockieren oder vorantreiben. Die Generalversammlung kann mit einer Art Weltparlament verglichen werden, wo zwar viel debattiert, doch wenig entschieden wird.

Reden versus Reden

Oft reiht sich Rede an Rede, Bekenntnis an Forderung und Worthülsen werden wiedergekäut. Die Langeweile vieler Texte ergibt sich aus den Textbausteinen, welche die Redenschreiber oft von Jahr zu Jahr weiterschieben, also eine Art bürokratisches „copy&paste“. Doch die Reden in diesen Tagen sind kriegerisch. Es geht um apokalyptische Warnungen, Energiekrise, um das Szenario eines Atomkriegs und Waffenlieferungen. Mit dem UNO-Geist ist das alles kaum vereinbar.

Mitten in diese Redenabfolge reihte sich die Ankündigung des russischen Präsident Vladimir Putin einer Teilmobilisierung und der Bereitschaft, alle Waffensysteme zur Verteidigung Russlands einzusetzen. Es scheint so, als duellierten sich zwischen Moskau und New York die Reden. Von Diplomatie, die sich für viele Staatenvertreter nur mehr auf martialische Tweets und andere Postings reduziert, ist in unserer Zeit wenig übriggeblieben. Die vielen bilateralen 20-Minuten-Treffen mit Foto am Rande der UNO-Generalversammlung ändern daran wenig.

Knappe Termine und viele Fotos

Pappwände lassen Kojen entstehen, in denen Außenminister, Regierungschefs und Staatspräsidenten einander für kurze bilaterale Termine begegnen. Es herrscht ein aufgeregtes Durcheinander zwischen diesen ad hoc erschaffenen Räumlichkeiten, die kaum die feierliche Atmosphäre der Büros der jeweiligen Politiker atmen. Es herrscht eher eine lockere Stimmung, wie auf einem Schulhof oder bei einem Treffen von ehemaligen Studienkollegen. Schulterklopfen, Wangenkuss und joviale Gesten vermitteln eine Vertraulichkeit, die in meinen Augen auch übertrieben sein kann. Denn immerhin vertritt jeder der Beteiligten die Interessen seines Landes und muss diese auch bei solchen hektischen Terminen wieder nachschärfen.

Für jene Staatenvertreter, die einander ohnehin gut kennen, sind diese „bilaterals“ teils nützlich, um akute Fragen persönlich zu besprechen. Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu handelt es sich fast schon um Routine. Denn beide sind seit vielen Jahren bei der UNO-Generalversammlung, während die meisten ihrer Kollegen eher Neulinge sind. Entscheidend ist aber in diesem Jahr weniger die Anciennität als vielmehr die Rolle, welche die türkische Diplomatie im Ukraine-Konflikt spielt. Präsident Erdoğan ist nun der Doyen, der auf Augenhöhe mit seinen Partnern verhandelt.

Ankara praktiziert das, was der Kern aller Diplomatie ist, nämlich unter allen Bedingungen, auch in einem militärischen Konflikt, die Gesprächskanäle offen zu halten. Anders als die Europäische Kommission und viele EU-Staaten, welche die Türen zuschlagen und die Entscheidung am Schlachtfeld suchen, vermittelt Türkiye – und dies erfolgreich. So wurden wichtige Getreideabkommen im Kriegsgebiet und vor einigen Tagen auch ein großer Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine von der türkischen Diplomatie auf den Weg gebracht.

Der Neuanfang?

Für die großen Fragen unserer Zeit wie Krieg und Frieden, Abrüstung, Bekämpfung von Hunger und Seuchen, sind diese Termine ungeeignet, denn es bleiben weder Zeit noch Raum, um Vertrauen entstehen zu lassen. Und ohne dieses Vertrauen geht gar nichts. Das Vertrauen, ein hohes Gut in zwischenstaatlichen wie in zwischenmenschlichen Beziehungen, ist vielerorts zerbrochen. Es scheint fast unwiederbringlich zerstört.

Das diplomatische Porzellan, das es zu kitten gilt, ist so zerschmettert, dass eigentlich völlig neues Porzellan hergestellt werden muss. In dieser verfahrenen Situation, die sich in den Monologen auf der Rednerbühne in der UNO-Generalversammlung zeigt, gewinnen andere Foren an Bedeutung.

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