13.01.2022, Russland, Rostow am Don: Russische Soldaten nehmen an Übungen auf dem Schießplatz Kadamowskii teil. Nach einem Treffen von Vertretern von 30 Nato-Staaten in Brüssel zum Nato-Russland-Rat, ist dieser ohne konkrete Annäherungen zu Ende gegangen. (dpa)
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Während der russisch-ukrainische Krieg, der mit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar begann, nunmehr in den achten Monat geht, haben die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld weiterhin ernsthafte regionale und globale Konsequenzen. Die Ende August in Cherson gestartete und am 6. September auf Charkiw ausgeweitete Gegenoffensive der Ukraine markiert nach einer siebenmonatigen Verteidigung einen Wendepunkt für den weiteren Verlauf des Krieges. Insbesondere der Gegenangriff auf Charkiw mit dem Durchbruch russischer Verteidigungslinien wird bereits jetzt als „Blitzkrieg“ bezeichnet. Während die ukrainische Armee in kurzer Zeit 2500 Quadratkilometer besetztes Gebiet befreite, löste sie auch neue Diskussionen über den weiteren Kriegsverlauf aus und sorgte auch in Russland für ernsthaftes Unbehagen.

Gegenangriff aus Russland

Russland scheint derzeit nicht in der Lage, auf den zügigen Vormarsch der Ukraine auf dem Schlachtfeld zu reagieren, und versucht mit einer Reihe von Gegenmaßnahmen für Gegenwind zu sorgen. Denn die unmittelbaren Reaktionen auf die militärischen Verluste des Landes vor Ort waren keine militärische, sondern politische. So hat Russland beschlossen, in den vier von Russland besetzten Gebieten (Donezk und Luhansk, seit 2014 besetzt, und Cherson und Saporischschja, dieses Jahr besetzt) Referenden abzuhalten, um die ukrainische Gegenoffensive in diesen Regionen als direkten Angriff auf russischen Boden bezeichnen zu können. Eine solche Einordnung wird Russland auf internationalen Plattformen keine Legitimität verschaffen, wobei die russische Entscheidung für die Abhaltung von Referenden eher auf die öffentliche Meinung in Russland abzielt als auf die internationale öffentliche Meinung.

In diesem Sinne ist die Gegenreaktion des russischen Präsidenten Putin in Form von Referenden auf die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld mit der Hauptbotschaft verbunden, dass die aktuellen Erfolge der Ukraine Russland nicht zum Rückzug bewegen werden. Darüber hinaus hat Russland mit der proklamierten Teilmobilisierung etwa 300.000 Reservekräfte zurückberufen und plant diese an die ukrainische Front zu entsenden. Auch wenn nach dieser Entscheidung ein rasanter Anstieg der Ausreisen aus Russland zu beobachten war, ist davon auszugehen, dass sich trotz dieser Fluchtbewegung neue Kräfte, die allerdings in Bezug auf Erfahrung und Ausbildung unzureichend sind, in großer Zahl an der Front der Ukraine entgegenstellen werden.

Putins jüngste Reaktion auf das Debakel in Charkiw umfasste auch den möglichen Einsatz von Atomwaffen, was die Hauptsorge zahlreicher Beobachter auf der ganzen Welt ist, die den Krieg von Beginn an verfolgen. Putins Erklärung, wonach Russland, wenn dessen territoriale Integrität bedroht wird, ohne Wenn und Aber alle Arten strategischer Waffen einsetzen wird, gefolgt von Vizepräsident Medwedews Ergänzung, dass „strategische Waffen eben auch Atomwaffen umfassen und entsprechend zum Einsatz kommen können“, lässt Bedenken aufkommen, dass eine Eskalation der bislang konventionell geführten Auseinandersetzung droht und Putin womöglich nicht blufft.

All diese pessimistischen Szenarien kamen zu der Drohung Putins hinzu, die Gasverkäufe nach Europa komplett einzustellen, und offen gesagt löste diese Drohung in Europa mehr Ängste aus als der bisherige Krieg in der Ukraine selbst. Der Gegenangriff der Ukraine, die Ausrufung der Teilmobilisierung Russlands, die Entsendung weiterer Unterstützung an die Front, Putins Drohungen, Atomwaffen einzusetzen und den Verkauf von Erdgas an Europa einzustellen, all dies deutet darauf hin, dass der Krieg unvermindert weitergehen wird und seine regionalen Auswirkungen insbesondere Europa, das auf harte Wintermonate zusteuert, in den Würgegriff nehmen werden. Es gibt jedoch ebenso Akteure, die sich bemühen, dieses pessimistische Szenario zu ändern.

Türkiye als Vermittler

Türkiye setzt sich seit Beginn des Krieges für eine Lösung am Verhandlungstisch statt an der Front ein. In den sieben Monaten seit Kriegsbeginn haben Zehntausende von Soldaten und Zivilisten ihr Leben und Millionen ihre Heimat verloren. Bereits jetzt zeigt sich, dass ein endgültiger Sieg an der Front langwierig und mit hohem materiellen und immateriellen Aufwand verbunden wäre. Aus diesem Grund hat Türkiye die Rolle eines Vermittlers eingenommen und die Konfliktparteien auf verschiedenen Plattformen zusammengebracht. Dabei kann Türkiye, das auch international die Unterstützung für die territoriale Integrität der Ukraine bekräftigt, als einziger Akteur bezeichnet werden, der politische und wirtschaftliche Beziehungen zu beiden Kriegsparteien unterhält und von diesen als unparteiischer Vermittler angesehen wird. Tatsächlich hatten sich bereits im ersten Kriegsmonat die Außenminister der Kriegsparteien im türkischen Antalya getroffen. Seitdem haben Präsident Erdoğan und Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu wiederholt die Gelegenheit genutzt, sich mit ihren russischen und ukrainischen Amtskollegen zu treffen, wobei diese Treffen auch einige greifbare Erfolge hervorgebracht haben. So hat das am 22. Juli in Istanbul unterzeichnete Abkommen zur Öffnung eines Getreidekorridors die Lieferung blockierten Getreides der Ukraine für den Weltmarkt ermöglicht. Dieser Getreidekorridor wird im Beisein russischer und ukrainischer Vertreter aus dem gemeinsamen Koordinierungszentrum in Istanbul gesteuert. Der für die globale Ernährungssicherung äußerst wichtige Getreidekorridor war zugleich das zweite konkrete Ergebnis der Bemühungen Türkiyes, die Kriegsparteien zusammenzubringen.

Der dritte wichtige Schritt erfolgte diese Woche. Im Rahmen eines von Türkiye vermittelten Gefangenenaustauschs entließ Russland 215 Kämpfer und Soldaten, während die Ukraine im Gegenzug 55 Soldaten und pro-russische Politiker freiließ. Eine weitere Gruppe ukrainischer Soldaten, darunter Kommandeure des Asowschen Bataillons, wird im Rahmen des erzielten Kompromisses bis zum Ende des Krieges in Türkiye verbleiben. Das Treffen der Außenminister Russlands und der Ukraine im März in Antalya, der im Juli in Istanbul vereinbarte Getreidekorridor und der jetzt im September erfolgte Gefangenenaustausch waren allesamt Meilensteine der türkischen Bemühungen zur Beendigung des Krieges. Die Zeit wird zeigen, ob diese Bemühungen ausreichen werden, um den Krieg zu beenden oder zumindest auch die internationalen Organisationen dazu zu bewegen, diesbezüglich endlich Initiative zu ergreifen. So jedenfalls beobachten die Entscheidungsträger insbesondere in der westlichen Welt den Krieg weiterhin und hoffen wohl, dass die Ukraine zu einem Sumpf für die russische Armee und Wirtschaft wird. Folgerichtig rückt damit die Frage, was am Ende von der Ukraine überbleibt, hinter die aktuelle Energiefrage Europas zurück.

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