Abdullah Eren;  Präsident des Amts für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften (Others)
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60 Jahre

Ein Zug fährt von Sirkeci,

Duran aus Erzurum,

Burhan aus Ankara fährt …

So beschrieb einst der Dichter die Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland immigrierten.

Die Auswanderung der Türken nach Deutschland ist ein ganz besonderes Ereignis, das nicht nur in der jüngsten Geschichte der Türkei und Deutschlands Spuren hinterließ, sondern auch Europas. Über dieses Ereignis, dessen Beispiele in fast allen Familien in Anatolien zu sehen sind, wurden Bücher geschrieben, Filme gedreht, Lieder gesungen und Gedichte geschrieben. Damit verabschiedete Anatolien bzw. die Türkei, die ja seit den letzten Jahren des Osmanischen Reiches selbst stets Einwanderer aufnahm, erstmals in ihrer Geschichte ihre Bürgerinnen und Bürger freiwillig massenhaft ins Ausland. Die Türken, die auf Einladung Deutschlands, d.h. im Rahmen des 1961 unterschriebenen Anwerbeabkommens in dieses Land zogen, spielten eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau und in der Entwicklung des Europas der Nachkriegszeit.

Die Vorreiter der Europäischen Diaspora

Die Türken, die der deutschen Wirtschaft in erster Linie als Arbeiter einen Beitrag leisteten, wurden zunächst als Gastarbeiter angesehen. Doch dank ihrer 60-jährigen Entschlossenheit und ihres Fleißes wurden sie zu Vorreitern der heutigen Türken in Europa. Mit der Zeit erwarben sie Fähigkeiten, wegen derer sie in diversen Bereichen eingestellt werden konnten und dementsprechend auch in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens mitwirkten. Die türkische Diaspora in Deutschland, deren Zahl sich heute auf rund 3,5 Millionen beläuft, hat sich mittlerweile zu einer führenden Kraft der Wirtschaft entwickelt, womit etwa einer halben Million Menschen Arbeit beschaffen wird. Auch in einflussreichen Einrichtungen und Institutionen der deutschen Politik haben sich Türken fest etabliert und engagieren sich für gleiche Bürgerrechte.

Unserer ersten Generation von Auswanderern gelang es, sich ohne ihr eigenes Ich zu verlieren fest in einer Gesellschaft zu behaupten, deren Sprache, Religion und Kultur sie nicht kannte, und zahlreiche Erfolgsgeschichten zu schreiben. Nun sind es die Kinder und Enkelkinder dieser Generation, die in jedem Bereich, von Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Sport bis hin zu Zivilgesellschaft, Politik und Bürokratie, Deutschland einen wesentlichen Beitrag leisten und dabei auch der ganzen Welt ein Zeichen setzen. In dieser Hinsicht sind Özlem Türeci und Ugur Sahin die jüngsten, überragenden Beispiele. Mit ihrem Impfstoff, den sie gegen Covid-19 entwickelten, erwiesen sie der Menschheit einen großen Dienst.

Leider widerfuhren den Türken trotz ihrer 60-jährigen Errungenschaften und Leistungen in Deutschland, das ja zu ihrer zweiten Heimat wurde, von Zeit zu Zeit auch rassistische Angriffe, z.B. in Mölln, Solingen, Hanau und durch das NSU-Netzwerk, was sie in der Tat nicht verdient hatten. Trotz Ausgrenzungen, Rassismus, Assimilation und ähnlichen Bedrohungen oder Angriffen haben die Türken in Deutschland nun ein halbes Jahrhundert hinter sich. Mit ihrer beispielhaften Präsenz bilden sie die bekannteste Community mit Migrationshintergrund. Sie haben dazu beigetragen, dass der Begriff „Migrant“ positiv aufgenommen wurde.

Fünf Millionen Europäische Türken

Lange Zeit waren die Türken in Deutschland und anderen europäischen Ländern für die Türkei eine wichtige Finanzquelle und quasi ein Fenster, das sich in die Außenwelt öffnet. Heute bietet die Türkei der türkischen Diaspora, deren Zahl sich insgesamt auf 6,5 Millionen beläuft – 5 Millionen in Europa, davon allein 3,5 Millionen in Deutschland – viel mehr Gelegenheiten als zuvor. Zahlreiche Einrichtungen und Institutionen in der Türkei, allen voran das Amt für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften (YTB), bemühen sich in dieser Richtung und setzen sich für die Rechte und Interessen der türkischen Diaspora ein. Damit diese noch mehr Mitspracherecht hinsichtlich des Schicksals ihrer Heimat bekommt, ebnete ihnen z.B. das YTB den Weg, indem es ihre Beteiligung an den Wahlen in der Türkei erleichterte. Es übernahm ferner die Führung im Ausbau der administrativen Prozesse und unterstützte zugleich die Bewahrung des Selbstbewusstseins und der kulturellen Identität unserer Jugendlichen. In diesem Sinne wird die Überzeugung geteilt, dass unsere Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und anderen europäischen Ländern in Zukunft noch größere Erfolge verzeichnen werden.

Juristische und Administrative Dienstleistungen

Die seit elf Jahren währenden Dienste des YTB für Türken im Ausland können unter drei Gesichtspunkten bewertet werden. Es sind Dienstleistungen im öffentlichen, kulturellen und im Bildungswesen. Als Erfordernis dessen, dass die Auslandstürken weiterhin mit der Türkei interagieren, hat sich YTB stets darum bemüht, dass mancherlei öffentliche Angelegenheiten und Verfahren für sie hierzulande erleichtert werden. In dieser Hinsicht wurden in Zusammenarbeit und Abstimmung mit den relevanten öffentlichen Einrichtungen bürokratische Verfahren, wie z.B. bezüglich des „Blauen Personalausweises“, der Justiz oder Wahlen, auf die unsere Bürgerinnen und Bürger in allen Bereichen des Alltags angewiesen sind, rationalisiert und dementsprechend leichter gestaltet. Diesbezüglich wurden ihnen noch mehr Rechte und Gelegenheiten geboten.

Die Jugend als Zukunft Unserer Diaspora

Auf der anderen Seite wünscht sich das YTB, dass Türken im Ausland nicht ausschließlich mit bestimmten Bereichen identifiziert werden, sondern insbesondere in allen qualifizierten Arbeitsbranchen eingestellt werden. Aus diesem Grund wird die Förderung des Bildungsniveaus unserer Bürgerinnen und Bürger bzw. der Jugendlichen, die den Kern und die Zukunft unserer Diaspora ausmachen, nach wie vor unterstützt. Zur Förderung einer höheren formellen und praktischen Bildung werden für unsere jungen Bürgerinnen und Bürger besondere Programme aufgelegt, z.B. „Masterstudium-Stipendien“, „Fuat-Sezgin-Hochleistungspreise“, „Abitur-Preise“, „Medienpreise“, „Experten-Stipendium im Bereich Familie und Soziale Dienste“, „Jura-Stipendium“ und „YTB-Türkei-Praktikum“. Die Initiativen zur Ausbildung von Vorbildern unter den jungen Menschen unserer Diaspora sind u.a. Aktivitäten wie „Programm für junge Führungskräfte“, „Diaspora Jugendakademie“ und „Fortbildung in Sachen Menschenrechte“. Des Weiteren wurde beobachtet, dass durch derartige Aktivitäten junge Türkinnen und Türken im Ausland aus ihrer mehrfachen Identität einen Vorteil zogen.

Sensibilität für Muttersprache und Heimat

Einheitlich zu agieren, ist für unsere Diaspora äußerst wichtig, damit sie ihre gesellschaftlichen Rechte und Fähigkeiten ausweiten kann. Um diesen Geist aufrechtzuerhalten, der ja im vollen Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger liegt, unterstützt das Amt für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften (YTB) sie dabei, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Da wir der Beherrschung der Muttersprache hinsichtlich der Bewahrung kultureller Werte eine besondere Bedeutung beimessen, versuchen wir, diese mit Programmen wie „Zweisprachige Vorschulerziehung“, „Anatolische Lektüren-Häuser“ und „Ausbildung von Türkisch-Lehrern“ zu fördern. In diesem Zusammenhang ist uns auch bewusst, dass unsere Jugendlichen die Kultur und Zivilisation, deren Teil sie sind, nur dadurch besser kennen lernen können, indem sie einiges an Ort und Stelle betrachten. In dieser Hinsicht helfen Ausflüge, die als Teil von Programmen wie „Evliya Celebi Kulturausflüge“ und „Jugendcamps“ in die Städte ihrer Heimat Türkei unternommen werden, jungen Türken dabei, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln.

Auch die Arbeiten, die YTB kooperierend mit anderen öffentlichen Einrichtungen und NGOs im Interesse der Auslandstürken durchführt, werden tagtäglich ausgeweitet. Als konkretes Beispiel hierfür werden unsere Bürgerinnen und Bürger, die sich jedes Jahr aufmachen, um ihre Heimat Türkei zu besuchen, an den serbischen Grenzen sowie am bulgarisch-türkischen Grenzübergang Kapikule von türkischen Polizeibeamten und YTB-Angestellten empfangen und versorgt.

Starke Diaspora, Starke Türkei

Anlässlich dieses besonderen und bedeutungsvollen Jahrestages der Abfahrt des ersten Zuges vom Bahnhof Istanbul Sirkeci nach Deutschland möchte ich all unseren altbewährten Vätern und Müttern dieser vergangenen 60 Jahre ein ehrendes Andenken bewahren.

Das Amt für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften wird als die öffentliche Diaspora-Einrichtung der Türkei seine Arbeit unter dem Motto „Starke Diaspora – starke Türkei“ fortsetzen, damit unsere Bürgerinnen und Bürger überall dort, wo sie sich im Ausland befinden, selbstbewusst, geachtet und unter wohlhabenden Umständen leben und sich für ein noch demokratischeres gesellschaftliches Umfeld solidarisieren.

Auf weitere 60 Jahre!

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