04.07.2022, Brandenburg, Schwedt/Oder: Überschüssiges Gas wird auf dem Industriegelände der PCK-Raffinerie GmbH verbrannt. (dpa)
Folgen

In Reaktion darauf, dass aller Voraussicht nach im nächsten Winter nicht genug Gas in Deutschland zur Verfügung stehen wird, bemüht sich die Bundesregierung um Alternativen, Einsparmöglichkeiten, Milderung von Härten und eine bessere Nutzung von Energie. Nach der schockierenden Einsicht, was die Energieabhängigkeit von Russland bedeutet, war schnell klar, dass der komplette Ausstieg aus fossilen Energieträgern Zeit braucht. Mehr Kapazitäten bei Erneuerbaren lassen sich nicht kurzfristig aufbauen, und alternative Lieferanten zu finden ist schwierig. Dennoch beeindruckt das Tempo, mit dem die Bundesregierung Energiemix und Bezugsquellen in wenigen Monaten sichtbar verändert hat. Bei Öl und Kohle funktionierte das gut. Bei Gas ist es komplizierter.

Alternative Herkunftsländer für Gasimporte

Gaslieferanten rund um den Globus wurden hofiert und es war nachrangig, ob es sich um Autokraten handelt und wie es um die Menschenrechte steht. Doch es reichte bislang nicht, solche Kröten zu schlucken, denn bei Gas ist der Markt weniger flexibel als bei Öl. Die meisten Produzenten sind an langfristige Lieferverträge gebunden und haben kaum freie Ressourcen. Einige Staaten wie Italien waren dennoch bei ihrer Einkaufstour erfolgreich oder hatten einen Plan B wie Finnland und können auch ohne russisches Gas entspannter der kalten Jahreszeit entgegensehen. Aber Deutschlands Energiehunger ist deutlich größer, und der Gasmangel würde nicht nur Menschen beim Heizen und Kochen einschränken, sondern ganze Sektoren der deutschen Wirtschaft treffen, Lieferketten unterbrechen und damit auch andere Volkswirtschaften vor Probleme stellen, die von einer funktionierenden deutschen Wirtschaft abhängig sind.

Deswegen wird fieberhaft mit allen Werkzeugen gearbeitet. Es gibt Investitionen, Verbote, Anreize, Abkommen und es wird viel kommuniziert. Jeder Beitrag zählt, und schon kleine Erfolge bei der Diversifizierung wie mit dem neuem Lieferabkommen mit Israel und Ägypten werden medial gefeiert. Daran ist nichts falsch, denn Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist, auch wenn solche Meldungen über Ersatz in der Größenordnung von ein paar Prozent im Kreml belächelt und als Illustration der Hilflosigkeit des deutschen Großkunden und seiner Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen aus russischer Förderung propagandistisch ausgeschlachtet werden.

Brüsseler Vorgaben zum Energieeinsparen

Die Bundesregierung bemüht sich auch um EU-Unterstützung. Vizekanzler und Energieminister Robert Habeck wandte sich an die Europäische Kommission mit der Bitte um verbindliche Vorgaben an die Mitgliedstaaten, Energie zu sparen. Die Hoffnung ist, dass wenn in der EU weniger der vorhandenen Energieressourcen verbraucht werden, spezifische Engpässe in einem Akt der Solidarität innereuropäisch noch besser ausgeglichen werden könnten als das bereits geschieht.

So wie sich 2021 in einer kollektiven Anstrengung die Regierungen der 27 EU-Mitglieder zu einem mächtigen Solidaritätsfonds zum Wiederaufbau der Ökonomien nach der Pandemie durchrangen, könnte es jetzt einen Akt der Solidarität für diejenigen geben, die härter von Energieknappheiten betroffen sind. Erreicht wurde ein gemeinsamer Beschluss, aber mit vielen Ausnahmen und ohne Verbindlichkeit. Das muss nicht bedeuten, dass sich Staaten in der kalten Jahreszeit nicht gegenseitig helfen, denn der Hauptwiderstand fokussierte sich auf die fehlende EU- Zuständigkeit, den Mitgliedstaaten vorzuschreiben, wie viel sie einsparen sollen. Es bleibt also ein Akt des guten Willens und des innenpolitisch Vertretbaren. Statt fester Regeln wird es politische Kuhhandel geben, ob und in welchem Umfang wer wem zur Seite steht, wenn Gas knapp wird.

Innenpolitische Nebenschauplätze

Auch innenpolitisch werden die Maßnahmen der Regierung ausgenutzt. Bayern schulmeistert gegenüber Niedersachsen, es solle Gasförderung durch Fracking ermöglichen. Niedersachsen kontert, Bayern solle bei Windenergie und den Stromtrassen nachbessern. Die FDP legt es mit der Forderung nach längeren Laufzeiten für Kernkraftwerke darauf an, den grünen Koalitionspartner vorzuführen, auch wenn Atomstrom das fehlende Gas in der Industrieproduktion und in den privaten Heizungen nicht ersetzen kann. Und sicherlich kommt auch wieder die Debatte um das Tempolimit auf Autobahnen, wogegen die FDP ist. Ob die Maßnahmen die richtigen sind und ausreichen, wird aber nicht nur davon abhängen, was der Staat tut.

Frag nicht, was dein Land für dich tut, sondern was du für dein Land tun kannst

Der berühmte Satz aus der Antrittsrede des US-Präsidenten John F. Kennedy 1961 gilt auch für die Deutschen im kommenden Winter. Denn ihnen kommt eine entscheidende Rolle dabei zu, wie das Land durch die kalte Jahreszeit kommt. Wer fragt, ob das reicht und ob das „wirklich eine Lösung“ ist, muss auch zwei Dinge klären: Reichen wofür? Und für welche Lösung?

Kein Vorhersagemodell kann eine Antwort darauf geben, wieviel Gas im kommenden Winter zur Verfügung steht und was damit passiert. Es gibt zu viele Unsicherheiten, angefangen vom Wetter und der Dauer der kalten Jahreszeit, der politischen Situation, über die ankommenden Liefermengen bis hin zur Nutzung und dem Verbrauchsverhalten der Konsumenten. Deswegen reicht das Spektrum möglicher Entwicklungen von keinen spürbaren Folgen (im Fall eines milden Winters und vollen Speichern bis zum Herbst) bis hin zu schweren wirtschaftlichen Einbrüchen und sozialen Unruhen, wenn Menschen in ihren kalten Wohnungen die Regierung für die Lage verantwortlich machen und Populisten ihre Chance wittern.

Um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, geht es nicht ohne die Bürger. Auf ihr Verhalten, ihre Flexibilität und ihre Kreativität kommt es genauso an wie auf die Anpassungen in der Industrie und die Maßnahmen des Staates.

Hat die Pandemie Menschen räumlich getrennt, gibt es nun im Land der Singlehaushalte Anreize, in Wohn-, Fahr- und Heizgemeinschaften zusammenzurücken. Die Deutschen investieren in neue Heizungen, Solarpanele, Thermostate, Isolierungen oder Wärmepumpen. Auch wenn nicht alle mitmachen können oder wollen, geht es um ein anderes Verständnis und dass es darauf ankommt, was Menschen für ihr Land, für Europa und für die Ukraine tun können. Im besten Fall ist es eine Selbsterkenntnis und persönliche Erfahrung, Sparpotentiale auszuloten und zu nutzen, die auch ohne den Krieg längst hätten erkannt werden sollen. Denn wir stehen mitten in der globalen Aufgabe, dem Klimawandel zu begegnen. Von daher liegt im Sachzwang der Gasknappheit die Chance auf einen beschleunigten Umbau unseres Energiesystems und ein gesellschaftliches Lernen, verantwortungsvoller zu leben. Wenn jeder Mensch nach seinen Möglichkeiten einen Beitrag leistet, kann die Summe der einzelnen Schritte nicht nur reichen, um wirtschaftliche und soziale Notlagen zu vermeiden. Denn verantwortungsvoll mit knappen Ressourcen umzugehen, ist mehr als die Bewältigung der kurzfristigen Aufgabe, Deutschland unbeschadet durch den nächsten Winter zu bringen. Es geht um die Lösung viel größerer Aufgaben: um Klimawandel und globale soziale Gerechtigkeit.

Meinungsbeiträge geben die Ansichten des jeweiligen Autors und nicht die der Redaktion wieder. Für Anfragen wenden Sie sich bitte an: meinung@trtdeutsch.com